Tokio ist bekannt für seine eindrucksvollen Hochhäuserschluchten und neonfarbenen Leuchtreklamen. Insbesondere der Bezirk Shibuya steht ikonisch für die Modernität und Dynamik Japans. Doch auf den zweiten Blick offenbart sich ein differenzierteres und vielfältigeres Bild der japanischen Hauptstadt: im Stadtviertel Tsukishima beispielsweise säumen niedrige Holzhäuser beidseitig schmale Gassen, während dahinter gewaltige Hochhäuser aufragen. Im Stadtteil fidnen sich belebte Bars und Restaurants, Handwerksbetriebe und Gärten. Tradition oder Fortschritt treffen aufeinander.

Einleitung

Tokio ist die größte Metropolregion der Welt und befindet sich in ständigem Wandel. Dem entspricht die Lehre der Shinto-Religion* von der immerwährenden Erneuerung, welche die Stadt und ihre Bevölkerung prägt. Auch die geografische Lage Japans im erdbebengefährdeten Gebiet in Nähe der Kollisionsspalten der pazifischen und der eurasischen Kontinentalplatte trägt bei zu einer Kultur und Architektur der Endlichkeit und des Wieder- und Neuaufbaus.

Shinto-Schreine werden beispielsweise traditionell alle 20 Jahre abgerissen und rekonstruiert.1 Selbst ikonische Bauwerke, wie der inzwischen abgerissene Nakagin Capsule Tower, weichen dem stetigen Wandel. So entsteht eine eindrucksvolle Dualität zwischen traditionellen Wohnhäusern (Machiya*, Nagaya*) in engen Gassen (Roji*) und zeitgenössischen und zukunftsweisenden Wohnhochhäusern. Jedoch werden die niedrig bebauten traditionellen Wohnviertel fortschreitend zugunsten neuer Bauten verdrängt. Stellvertretend für diese Entwicklung betrachten wir in diesem Artikel das Stadtviertel Tsukishima.

Verortung

Geschichte

Tokio, damals noch unter dem Namen Edo bekannt, galt bereits im 18. Jahrhundert als größte Stadt der Welt mit einer Bevölkerung von damals über einer Millionen Einwohnern.2 Zwischen 1603 bis 1868 wuchs die Stadt rasant und es erfolgte die erste große soziale und typologische Umstrukturierung der Stadt: zwei Drittel der Stadtfläche wurden verstaatlicht und durch die Öffentlichkeit umgenutzt, die Stadt verlor in diesem Zuge etwa die Hälfte ihrer Bewohner*innen.3

Nach der Neuordnung des sozialen und politischen Systems Japans, bekannt als Meiji-Restauration*, erneuerte sich die Stadt unter dem Namen Tokio. Die extrem dichte Bebauung und die Holz-Papier-Leichtbauweise traditioneller japanischer Häuser dieser Zeit führten zu einer erhöhten Brandgefahr, sodass die Gebäude den Spitznamen yakeya* 4 erhielten. Um diesen und weiteren Problemen entgegenzuwirken, wurde 1888 eine Verordnung zur Verbesserung der Stadt Tokios verabschiedet. Sie bildete die Grundlage für die weitere urbane Entwicklung der Stadt.3 Unter dem Einfluss der Ideen des ehemaligen Gouverneurs Matsudas, entwickelte das Heimatamt eine Planung für die zukünftige städtebauliche Entwicklung der Stadt. Der Fokus lag auf dem Ausbau des Hafens, sowie der Einrichtung zahlreicher Parks, Theater und Märkte. Bis 1903 verzögerten jedoch Zuständigkeitskonflikte und Finanzierungsprobleme die Umsetzung der Pläne. Schließlich wurden sie stark reduziert und mit dem Fokus auf die Frischwasserversorgung und den Ausbau der Straßen- und Straßenbahninfrastruktur ausgeführt. Auf Basis dieser Entwicklung wurden 1919 die Stadtplanungsgesetze Tokios verabschiedet, die nicht nur maßgeblich für die Entwicklung Tokios, sondern aller japanischen Städte wurde.

Bis zum Ende der Meiji-Zeit* 1912 wuchs die Bevölkerung der Stadt auf 2,3 Millionen Menschen. 1923 erschütterte das Große Kanto Erdbeben die Stadt, in dessen Folge die Bevölkerung heraus aus dem dichten Zentrum in die dezentralen, umliegenden Regionen abwanderte. Bis 1940 wuchs die Bevölkerung Tokios auf etwa 7 Millionen Menschen. Mit dem Zweiten Weltkrieg und der damit verbundenen großflächigen Zerstörung, reduzierte sich die Bevölkerungszahl auf lediglich 3 Millionen Menschen. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichten Einwander*innen einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung und ein erneutes Wachstum der Stadt. Um die weitere Verdichtung der Stadt zu ermöglichen, begann ein Wandel im Bauwesen – es entstanden immer mehr Hochhäuser.

Der im Fokus betrachtete Stadtteil Tsukishima ist eine künstliche Insel, die mit dem Bauschutt der Erweiterung des Tokioter Hafens aufgeschüttet wurde. Nach ihrer Fertigstellung 1892 wurde die Insel als Industriestandort genutzt. Mit der Zeit ersetzten Wohn- und Geschäftsgebäude die industriellen Strukturen. 1988 wurde die Insel an das System der Tokio Metro angeschlossen und seit 2000 kreuzen sich hier zwei Metro-Linien. Mit der höheren Frequentierung der Station folgte eine Nachverdichtung im direkten Umfeld durch den Bau zahlreicher Hochhäuser. 

Bevölkerungsentwicklung Tokios

Infrastruktur und Transit Oriented Development

Die Infrastruktur des Tokioter Stadtteils Tsukishima ist als orthogonales Netzwerk angelegt. Drei große Straßenachsen queren die Insel und verbinden sie mit der Kernstadt und der benachbarten Insel Harumi. Die breite Kiyosumi-dori-Avenue verläuft längs durch das Viertel. Neben diesen großen Verkehrsadern begrenzen einige zweispurige Straßen die etwa 120 Meter breiten, quadratischen Stadtblöcke. Durch diese Blöcke laufen die zahlreichen Rojis* – die für Tokio typischen, engen Gassen, die von einer dichten niedrigen Randbebauung gesäumt werden. 

Die Ursprünge der aktuellen städtebaulichen Entwicklungen in Tsukishima liegen unter der Erde: Tokio besitzt das dichteste und höchstfrequentierte Bahnnetz der Welt. Etwa 36 Millionen Passagiere nutzen täglich die U-Bahn und die Züge in die Vororte der Stadt. Die 1946 implementierte Verknüpfung dieser beiden Systeme verringert die Anzahl der nötigen Umstiege und erleichtert seitdem das Pendeln zwischen den äußeren Stadtbezirken und der Kernstadt.5

In der U-Bahnstation Tsukishima kreuzen sich die ringförmige Oedo-Linie, welche die Kernstadt umschließt und die Yurakucho-Linie, welche auf 28 Kilometern quer durch die Kernstadt bis in die Vororte führt. Während die Yurakucho-Linie seit 1988 durch Tsukishima verläuft, existiert die Verbindung mit der Ergänzung der Oedo-Linie erst seit 2000. Die seither gesteigerte Bedeutung des Bahnhofs brachte auch oberirdisch einige Steine ins Rollen. Das sogenannte Transit-Oriented-Development wird in Tokio schon seit Jahrzehnten als Stadtplanungsinstrument angewandt. Diese Art der Stadtplanung hängt, wie der Name bereits verrät, eng mit dem öffentlichen Nahverkehr zusammen: die private Bahngesellschaft oder die Stadt selbst entwickelt neue Stadtteile entlang entstehender Bahnstationen. Die Verwaltung lockert die Regeln und Gesetze für neue Bebauungen im Umkreis bestehender Stationen und setzt gezielte Investitionsanreize in diesen Lagen.5 Alle Varianten des Transit-Oriented-Developments haben Synergieeffekte als Zielsetzung. Die Verdichtung der näheren Bahnhofumgebung führt zum Beispiel zu einer höheren Auslastung der Züge, kürzeren Distanzen zwischen Nahverkehr und Wohnungen oder Gewerbe, sowie zur Wertsteigerung der Immobilien und Grundstücke in Bahnhofsnähe.6 Die privaten Bahngesellschaften sind in der Folge ihrer außerordentlichen Bedeutung für die Stadtentwicklung zu den größten Immobilienbesitzern der Stadt geworden. Ihr Geschäftsmodell basiert nur noch zum Teil auf dem Bahnverkehr – darüber hinaus betreiben sie eigene Freizeitparks, Einzelhandelsfirmen und die Vermietung eigener Wohnsiedlungen in unmittelbarer Nähe der Bahnstationen.1

Tsukishima Station im Tokioter Liniennetz
Straßenhierachie und Metrostationen in Tsukishima
Transit-Oriented Development

Die Entwicklung Tokios und Tsukishimas

Die Stadtentwicklung Tokios folgt keinem übergeordneten einheitlichen Plan, stattdessen wird gebaut, was für den jeweiligen Ort praktisch oder profitabel ist. “Tokio scheint die am wenigsten geplante Metropole der Welt zu sein, nicht so sehr entworfen, sondern eher natürlich gewachsen.”7 Dabei folgen die Elemente der Stadt, wie Straßen und Gebäude, ihren jeweiligen lokalen Gesetzen, die zu dem charakteristischen Bild der Stadt führen. Dazu gehören beispielsweise die Boulevards und die breiteren Straßen, die die historischen Viertel mit ihren kleinen Gassen durchschneiden und neue Verbindungen in der Stadt herstellen. Die Gebäude entlang dieser breiten Straßen sind verpflichtend erdbebensicher und aus feuerfesteren Materialien errichtet.89 Weitere Regeln sollen seit den siebziger Jahren den Grad der Verschattung minimieren – so zum Beispiel durch ein Schrägliniensystem, welches Gebäudehöhen in Relation zur Straßenbreite setzt.1 Diese Bestimmungen erzeugen charakteristische Gebäudekubaturen mit vielen Dachschrägen und Rücksprüngen. Jedoch gelten an vielen Orten Ausnahmen, ohne die ein unmittelbares Nebeneinander von Einfamilienhaus und Wolkenkratzer wie in Tsukishima nicht möglich wäre. Ein Hochhaus darf beispielsweise die maximal erlaubte Höhe überschreiten, wenn im Ausgleich ein Teil des Grundstücks unbebaut bleibt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Diese Freiräume erzeugen jedoch selten die seitens der Gesetzgeber erhofften sozialräumlichen Vorteile, da sie oft nur nüchterne Erschließungsflächen bleiben.10

Das Stadtviertel Tsukishima liegt auf einer künstlichen Insel, welche im späten 19. Jahrhundert als erste Hafenerweiterung aufgeschüttet wurde. In einem rechteckigen Straßenraster siedelten sich Lagerhäuser und kleine Wohnhäuser für die Hafenarbeiter an. Wer heute auf den Stadtplan schaut, erkennt noch viele weitere, menschgemachte Inseln, die sich bis weit in die Bucht von Tokio erstrecken. Mit jedem Jahrzehnt verlagerte sich der Kern des Hafens weiter weg vom Stadtzentrum, so dass Tsukishima sich zu einem belebten Stadtquartier wandeln konnte. Zunächst wurden alte Lagerhallen durch schmale Wohngebäude ersetzt und die bestehenden niedrigen Strukturen verdichtet. Die zentrale Lage und die Anbindung an das Metronetz erhöhten jedoch spätestens seit 1990 den Druck auf die Bodenpreise, sodass die ersten Gassen und Grundstücke den neuen Wohntürmen weichen mussten.11 Einige Initiativen versuchen den Erhalt einiger Roji-Strukturen zu erwirken. Die in der ortsansässigen Nagaya School entwickelte “Tsukishima Alleyway Map” mit einer kartographischen Darstellung der Roji erregte überregionale Aufmerksamkeit. Mit dem Mittel dieser Darstellungen sollte ein Bewusstsein für das kulturelle Erbe und eine höhere Wertschätzung der Rojis-Strukturen erreicht werden.11 Weiterhin versuchte sich die Stadtteilregierung in Rekonstruktionsplanungen einzelner Gassen. Numerisch ist der Erfolg bisher allerdings gering, da die Neuplanungen wegen der strengen Richtlinien oft nicht die atmosphärische Qualität des Bestandes erzielten.11

Strukturelle Entwicklung 1910 / 1970 / 2020
Querschnitt durch Tsukishima

Roji und Hochhäuser

Die Tokioter Roji* zeichnen sich durch verschiedene Merkmale aus. Als Wege dritter Ordnung erschließen sie Häuser abseits der Haupt- und Nebenstraßen und sind auf fußläufigen Verkehr ausgerichtet. Fahrrad- und Autoverkehr findet dort nur in Schrittgeschwindigkeit statt oder ist in Teilen gar untersagt. Zugleich verbindet man mit den Roji soziale Aspekte, da die Bewohner*innen sie als Handelsort, Treffpunkt, zum Gärtnern oder zum Spielen nutzen.11 Die fließenden Übergange zwischen dem Gassenraum und den angrenzenden Wohngebäuden in den Roji stellt einen entscheidenden Unterschied zur Hochhausbebauung dar. In den Wohnhochhäusern müssen von den Wohnräumen bis zum Straßenraum beispielsweise mehrere Türen, ein Laubengang oder Flur, ein Aufzug und der Empfang passiert werden. Unter anderem aus diesem Grund wird in Tokio eine durchschnittlich geringere gesellschaftliche Teilhabe der Hochhausbewohner*innen beobachtet.12

Der Blick auf die Grundrisse der Wohngebäude entlang der Roji verdeutlicht die Kompaktheit der Wohnfläche und den engen Bezug zur Gasse. Ferner wird der Küche kein großer Stellenwert eingeräumt, sie wird häufig durch eine kleine Nische ausgebildet. Nur wenige Bewohner*innen Tokios kochen selber, da eine Vielzahl an preisgünstigen und zeiteffizienten Restaurants existiert, welche darauf ausgelegt sind die Pendler*innen und Arbeiter*innen der Stadt zu versorgen. Aufgrund der tief im Alltag der Japaner*innen verwurzelten Nutzung dieser Möglichkeiten, räumen auch die Grundrisse der neuen Hochhäuser der Küche trotz insgesamt größerer Wohnflächen kaum mehr Platz ein. 

Ein Ende des Hochhausbaus ist in Tsukishima nicht in Sicht. Der Druck auf die Roji dürfte insofern weiter steigen. Gleichwohl verzeichnet sich in der Bevölkerung eine gesteigerte Wertschätzung der traditionellen Viertel. Der offizielle „Cityscape Guidance District Plan“ für Tsukishima versucht beispielsweise, die Rolle der Roji-Viertel zu stärken und gleichzeitig deren Katastrophenresilienz zu erhöhen.13 Die neue Wertschätzung der Roji geht jedoch oft einher mit einer auf Nostalgie basierenden Kommerzialisierung und der Verdrängung der bisherigen Bewohner*innen.11

Grundriss Roji
Grundriss Hochhaus

Öffentlicher Raum

Während in London sieben Millionen Menschen auf 1579 Quadratkilometern leben, sind es in den 23 Kernbezirken Tokios acht Millionen Menschen auf 621 Quadratkilometern.1 Die Parzellen sind in längliche, schmale Grundstücke aufgeteilt, die bis zu einer Höhe von zwölf Metern fast randlos bebaut werden dürfen. Klare Bebauungslinien oder Freiflächen existieren nicht, da das japanische Planungsrecht keine Vorschriften zur Unterscheidung bebaubarer und nicht bebaubarer Fläche definiert.1 Für öffentliche Freiflächen existiert kein Schutzmechanismus, um sie vor dem Überbauen zu schützen.

Japanische Wohnungen sind im Vergleich zu europäischen Wohnungen signifikant kleiner. Die kleinsten Wohnungen der Stadt sind knapp fünf Quadratmeter groß und im Durchschnitt lebt eine Person in Tokio auf etwa 19 Quadratmeter. Die Empfehlung der örtlichen Regierung von 25 Quadratmetern pro Person, wird demnach weit unterschritten.14 Durch die minimalen Wohnflächen verlagert sich die Freizeitgestaltung der meisten Bewohner*innen Tokios in den öffentlichen Raum. Jedoch sind repräsentative Platzanlagen in traditionellen japanischen Städten eher selten. „Markt- oder Rathausplätze als weite, öffentliche Räume, mit herausragender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung wie in Europa, gibt es in Tokio […] nicht.“1 

Das Rückgrat der Infrastruktur Tokios bildete einst ein Fluss- und Kanalnetz, über das der Handel und auch die Aufteilung der Stadtteile geregelt wurde. Inzwischen wurde das Kanalsystem der Stadt fast vollständig zugeschüttet und durch Straßenzüge ersetzt. Die Standorte der ehemaligen großen Brücken bilden dabei bis heute die wichtigsten Kreuzungen der neuen Verkehrsadern.1 Dadurch sind fast alle zentralen Bereiche Tokios durch Bewegung gekennzeichnet. Ausruh- und Verweilorte, wie in europäischen Stadtzentren, sind selten. Stadtmöblierung wie Sitzbänke, öffentliche Mülleimer oder Dekorationen wie Brunnen oder Skulpturen, sind, wenn überhaupt, nur in Parkanlagen zu finden. 

In Geschäfts-, Wohn- oder Einkaufsvierteln wird der übriggebliebene, nicht bebaute Raum intensiv genutzt. Vor allem bei der älteren Wohnbebauung, den Machiya* und Nagaya*, existiert ein fließender Übergang zwischen Innen und Außen.1 Einige Roji* werden von den Anwohner*innen der angrenzenden Wohnhäuser mit Topfpflanzen dekoriert, sodass sich die Gassen zu etwas wie öffentlichen Gärten entwickeln.15 Aus diesen Initiativen heraus entstanden Pocket Parks, kleine Grünflächen mit meist einer Bank und ein paar Pflanzen, welche die Bewohner*innen in den seltenen Baulücken einrichten. Unabhängig von der Zonierung ist zudem die kommerzielle Nutzung der Erdgeschosse aller mindestens zweigeschossigen Häuser erlaubt. Dadurch entstanden die berühmten Yokocho Alleyways, die teilweise beidseitig im Erdgeschoss gastronomisch genutzt werden. Erdgeschossnutzungen dieser Art breiten sich dabei in den Gassenraum aus und lösen dadurch die Grenze zwischen Innen- und Außenraum in Teilen auf. Auch ältere Handwerksbetriebe öffnen sich oftmals mit ihrem großen Arbeitsraum hin zur Straße, um Passant*innen Einblicke zu ermöglichen.

Roji als Freiraum

Dritte Orte in Tokio – Auslagerung von Nutzungen in die Öffentlichkeit

Eine Besonderheit Tokios und Japans ist eine weitere Form des öffentlichen Raumes: es handelt sich um semi-private Flächen zur kurzzeitigen Miete, auch “Third Places”, dritte Orte genannt. Aufgrund der geringen privaten Wohnflächen integrieren diese Orte Funktionen, die beispielsweise in Deutschland in der eigenen Wohnung verortet würden.1 Die Nutzungen variieren beispielsweise von Karaoke-Bars, in denen Zeit mit Freunden verbracht wird, öffentliche Bäder, „Love Hotels“, oder „Manga Kissa“ (eine Art Internetcafé inklusive einer Bibliothek mit Mangas zur freien Ausleihe). Aber auch Orte wie Waschsalons, „Pachinko“ (Glücksspielsalons), „Combinis“ (kleine Einkaufsläden) 16 oder Capsule-Hotels zählen zu diesen dritten Orten. Sie bieten den Nutzer*innen Unterhaltungsmöglichkeiten, gesellschaftliches Beisammensein, Privatsphäre, sowie einen Arbeitsplatz oder einen Ort zum Schlafen. All diese Orte und Nutzungen sind kommerzielle Einrichtungen, die zumeist mit vergleichsweise geringen Kosten verbunden sind. Der Pauschalpreis für eine ganze „Manga-Kissa“-Nacht beträgt umgerechnet zehn Euro, die Stunde einer Karaoke-Bar im Schnitt etwa zwei Euro und die Nacht in einem Capsule-Hotel etwa 40 Euro. Solche nomadischen Nutzungen bilden Grundbausteine des tokioter Lebens. Dies hat zur Folge, dass der öffentliche Raum außerhalb von Parks keinen Aufenthalt vorsieht und von Bewegung dominiert wird.16 Diese Entwicklung ist nicht auf Japan beschränkt, sondern findet sich in großen Teilen des ostasiatischen Raumes verbreitet.

Grundriss Love-Hotel
Grundriss Karaoke-Bar
Grundriss Manga-Café
 

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Autor*innen

  • Tim Mödeker (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Sommersemester 2022)
  • Jan Hüttmann (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Sommersemester 2022)

Quellen

  1. Tokio. Die Straße als gelebter Raum, S 12, S. 39f, S.55, Baden (Ch) 2010
  2. planet wissen. Metropolen - Tokio. https://www.planet-wissen.de/kultur/metropolen/mega_city_tokio/index.html#:~:text=Schon im 18.,Neongeblinke gehören hier zum Alltag, 23.03.2023
  3. A Hundred Years of Tokio City Planing, S. 10, 12, 14, 57, Tokio 1994
  4. Sustainable Urban Transport in an Asian Context, S. 91ff, Tokio 2010
  5. pnd - rethinking planning. Transit-Oriented Development – eine internationale Literaturauswertung. https://www.planung-neu-denken.de/2-2021-digital-citymakers/transit-oriented-development/, 08.08.2022
  6. „„Ein Spaziergang durch Tokio”“. In: Arch+, 151, S. 60, Berlin 2000
  7. Urban Development in Tokyo, S. 16f, Tokyo 2011
  8. „„Typo-Morphology of Tokyo”“. In: Perspecta, 40, S. 38, Cambridge (USA) 2008
  9. „Public-private interaction in low-rise, high-density Tokyo – a morphological and functional study of contemporary residential houses“. In: The Journal of Public Space, S. 66, Bologna 2020
  10. Tokio Roji: The Diversity and Versatility of Alleys in a City in TransitionNew York, S. 128ff, 145f, New York 2018
  11. „What High-Rise Living Means for Tokyo Civic Life: Changing Residential Architecture and the Specter of Rising Privacy“. In: The Journal of Japanese Studies, Vol. 42 Nr. 2, S. 323ff, Washington 2016
  12. „Characteristics of inter-personal environment in the exterior space of super-highrise condominiums in Tsukishima, Tokyo“. In: Journal of Architecture and Planning, Vol. 76 No. 660, S. 273, Tokio 2011
  13. 2018 Housing and Land Survey / Basic Tabulation on Dwellings and Households / Major Metropolitan Areas, Metropolitan Areas and Range of Distance. https://www.e-stat.go.jp/en/stat-search/file-download?statInfId=000031866059&fileKind=0, 08.08.2022
  14. „Private use of public open space in Tokio: a study of the hybrid landscape of Tokio’s informal gardens“. In: JoLA – Journal on Landscape Architecture, 09/2007, S. 6-17, Abingdon 2007
  15. „Wohnen außer Haus“. In: Arch+, 151, S. 46-51, Berlin 2000
  • An Illustrated Guide to Japanese Traditional Architecture and Everyday Things, S. 28, Kyoto 2018
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