Als in den 30er-Jahren aus ganz Europa jüdischen Architekten auf der Flucht in das neu entstandene Tel Aviv kamen, brachten sie die Ideen des Bauhauses mit. Zwischen 1920 und 1940 wurden über 4.000 Gebäude im internationalen Stil errichtet worden; die größte Konzentration von Bauhaus-Gebäuden auf der ganzen Welt. 2003 erklärte sie UNESCO zum Weltkulturerbe. Heute steht allerdings die niedrige denkmalgeschützte Bebauung dem starken Wachstum Tel Avivs im Weg.

Geschichte

Ende des 19. Jh. wanderten vermehrt jüdische Migranten nach Israel, die sich dort ein besseres Leben erhofften. Im Norden der Stadt Jaffa entstanden zu dieser Zeit die drei jüdischen Viertel Neve Zedek, Neve Shalom und Achuzat Bait, die schließlich 1909 zur Stadt Tel Aviv zusammengefasst wurden.1 Seit ihrer Gründung wurde die Architektur, der noch jungen Stadt, von jüdischen Einwanderern aus unterschiedlichen Ländern geprägt. Bis 1920 verlief der Städtebau Tel Avivs unkoordiniert, sodass neue Viertel isoliert und ohne Berücksichtigung vorhandener Baustrukturen geplant wurden.1 Schließlich wurde 1925 der schottische Biologe, Soziologe und Stadtplaner Sir Patrick Geddes beauftragt, einen Masterplan für die Stadt zu erstellen. Angelehnt an den britischen Idealen einer Gartenstadt, erarbeitete Geddes einen Plan, den die Stadtverwaltung 1927 genehmigte.2 Als in den 1930er-Jahren erneut Geflüchteten aus Europa eintrafen, entwickelte sich das Stadtzentrum Tel Avivs so schnell, dass sich die Einwohnerzahl bis 1938 verdreifachte.3 Durch die vielen verschiedenen europäischen Einflüsse, entstand eine Ansammlung an Gebäuden unterschiedlicher Baustile. Die aus dieser Zeit entstanden Gebäude im Zentrum Tel Avivs werden heute "Die Weiße Stadt" genannt.

Übersicht

Regelwerke

Der Geddes-Plan bestand aus vier wesentlichen Aspekten: Der Hierarchie der Straßen, den sogenannten Home-Blocks, die öffentlichen und privaten Gärten und den frei stehenden Gebäuden.1 Die “Main-Ways" verlaufen als Hauptverkehrsstraßen parallel zum Mittelmeer, wohingegen die "Minor-Roads"  als untergeordnete Wohnstraßen orthogonal zu den Main-Ways verlaufen und mit diesen die "Home-Blocks"bilden. Durch die Home-Blocks verlaufen sowohl die "Home-Ways" als Anliegerstraßen und die Rose and Wine Lanes" als Fußwege.1 Geddes verstand jeden Home-Block als eine Miniaturversion einer Gartenstadt. Im Zentrum sollte sich ein öffentlicher Garten befinden und jeder Block mit einer Seite an eine Hauptverkehrsstraße angebunden sein. Zudem sollte jeder Block durch unterschiedliche Sportplätze und Nachbarschaftsgebäude seine eigene Identität erhalten. Außerdem waren für Geddes die frei stehenden Gebäude und privaten Gärten von Bedeutung. Auf jedem Grundstück wurden von ihm Gärten vorgesehen, um eine lebenswerte, grüne und vom Wind gut durchlüftete Innenstadt zu schaffen.

Straßenhierarchien
 
Homeblock

Entwicklung

Vier Jahre nach der Genehmigung des Geddes-Plans, wurde dieser im Rahmen des "Plan 9" von Yaakov Shifman in Teilen modifiziert.3 Unter der Planung Shifmans wurden vereinzelte Home-Blocks realisiert, die auch heute noch innerhalb der Stadtstruktur erkennbar sind. Von den ursprünglich 60 geplanten öffentlichen Gärten wurden später nur 30 Gärten in der Weißen Stadt realisiert.2 Da Geddes kein Regelwerk für die Gebäude angelegt hatte, ergänzte Shifman detaillierte Regeln bezüglich des Baustils. Diese setzten sich aus verschiedenen Einflüssen europäischer und orientalischer Architekten zusammen, wodurch der "Internationale Stil" für die Weiße Stadt etabliert wurde. Neben Einflüssen Le Corbusiers des Stahlbetonskelettbaus und freien Erdgeschosse, sowie Erich Mendelsohns baulichen Fluidität, sind auch Einflüsse anderer bekannter Architekten, unter anderem dem Dessauer Bauhaus, an den Gebäuden ablesbar.2 Die Weiße Stadt ist von den Stilelementen wie Bullaugenfenster, Thermometerfenster aber auch einer Horizontalität der Fassaden maßgeblich geprägt.3

Internationaler Stil
 
Fluidität

Themometerfenster
 
Horizontalität

Verkehr und Infrastruktur

Heute sind die von Geddes geplanten und von Shifman weitergeführten Straßenhierarchien deutlich zu erkennen. Das fragmentierte Raster lässt den Wind durch die Straßen ziehen und eine natürliche Kühlung ist gewährleistet. Anhand der Straßenbreiten sind die unterschiedlichen Straßentypen, wie Anlieger- und Hauptverkehrsstraßen ablesbar. Die Fußwege der Main-Ways sind deutlich breiter und haben einen angelegten Fahrradweg. Hingegen sind die Fußwege der Home-Ways schmaler und werden von Anliegerparkplätzen gesäumt. Der öffentliche Personennahverkehr beschränkt sich in der Weißen Stadt auf Busse. Es gibt keine Stadtbahn oder anderen Schienenverkehr.

Main-Way
Minor-Roads
Home-Way
 

Öffentlicher Raum

Die Grundstücke der Weiße Stadt befinden sich größtenteils in Privatbesitz. Lediglich der Straßenraum und die realisierten öffentlichen Gärten stehen der Öffentlichkeit als Freiraum zur Verfügung. Der überwiegende Teil der Bebauung besteht aus Wohngebäuden. Ausnahmen sind die zwischen den Home-Blocks liegenden öffentlichen Gebäude, wie zum Beispiel Synagogen. Da der private Freiraum auf den Grundstücken sehr schmal ist, wird dieser von den Bewohner*innen kaum genutzt.8 Hingegen befinden sich gut gepflegte Gemeinschaftsräume auf den Dachterrassen der Flachdächer. Diese sind meist durch Pergolen und rankende Pflanzen verschattet und bieten den Bewohner*innen einen Ort der Begegnung.4 Die Wohneinheiten besitzen häufig Balkone, die als privater Rückzugsort und größtenteils als Garten genutzt werden.8

Öffentlicher Garten
 

Balkone und Dachterrassen
 

Erdgeschoss

Das zurückspringende Erdgeschoss, eine Art Pilotis, ist als Stilelement Le Corbusiers zurückzuführen. Dadurch entsteht eine überdachte und häufig mit niedrigen Pflanzen gesäumte Pufferzone, die ein Mikroklima schafft und gegenüber dem Straßenraum Ruhe und Schatten bietet. Dadurch wird das Ankommen am Haus zelebriert und eine nötige Aufenthaltsqualität geschaffen. Gestärkt wird diese räumliche Qualität durch Sitzgelegenheiten zum Verweilen.4 In den meisten Erdgeschossen befinden sich Wohneinheiten oder Gemeinschaftsräume der Bewohner*innen. Lediglich in den von Shifman genannten "Shopping Zones" entlang einiger Main-Ways, befinden sich Geschäftsflächen im Erdgeschoss.1

Denkmalschutz und Stadtentwicklung

Seit 2003 zählen 4000 Gebäude der Weißen Stadt zum UNESCO-Weltkulturerbe und stehen dadurch unter Denkmalschutz. In den drei gesonderten Schutzgebieten befinden sich ca. 1000 strenger geschützte und insgesamt 180 sehr strengen Auflagen unterliegende Gebäude.2 Während der Denkmalschutz in Deutschland seit dem 19 Jh. eine lange Tradition hat, beschäftigte sich die Behörde der Denkmalpflege in Tel Aviv lange Zeit nur mit dem gebauten Erbe bis 1700. Erst 1990 wurde innerhalb der städtischen Bauabteilung eine Abteilung für Denkmalpflege gegründet, die den Erhalt der weißen Stadt zur Aufgabe hat.7 Die denkmalgeschützte zwei- bis dreigeschossige Bebauung im Stadtzentrum steht dem starken Wachstum Tel Avivs allerdings im Weg. Durch die hohe Nachfrage nach Wohnraum in Tel Aviv, steigt der Druck den bestehenden Stadtraum nachzuverdichten. Erweiterungen, Aufstockungen und Veränderung der Gebäudegrundrisse sind daher trotz Denkmalschutz realistischer als eine Musealisierung. Die Stadtverwaltung verfolgt den Ansatz, die Gebäude wandelbar zu halten und die Grundgedanken der Architektur zu wahren. 2012 verabschiedete sie daher ein Gesetz zur Aufstockung von Gebäuden mit bis zu zweieinhalb zusätzlichen Geschossen, wenn der Bestand in die Sanierung integriert wird.5 Bei einigen Gebäuden sind die Aufstockungen ganz im Stil der ursprünglichen Gebäudeteile geplant und im Nachhinein nicht mehr von diesen zu unterscheiden sind. Bei anderen Gebäuden hingegen stellen die neuen Geschosse durch Materialität oder Stil einen Kontrast zum eigentlichen Gebäude dar. "Die Herausforderung ist, die Masse zu vergrößern, ohne dass das Gebäude seinen Charakter verliert", erklärt der Architekt Daniel Mester von Mester-Gal Architects, der schon viele Aufstockungen und Anbauten in der Weißen Stadt geplant und umgesetzt.6

Aufstockung im gleichen Stil
 
Aufstockung zurückgesprungen
 

Aufstockung neuer Stil
 
Aufstockung neuer Stil
 

 

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Autor*innen

  • Melanie Lindemann (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Sommersemester 2020)
  • Lea Poppe (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Sommersemester 2020)

Quellen

  1. Goldman, Pe'era et al.: Tel Aviv - Modern Architecture 1930 - 1939, Tübingen / Berlin 1994
  2. Boness, Stefan: Tel Aviv - The White City, Berlin 2012
  3. Golan Yaron, Sharon: Bundeszentrale für politische Bildung. Nur Bauhaus? Zur Moderne in Tel Aviv. https://m.bpb.de/apuz/287820/nur-bauhaus-zur-moderne-in-tel-aviv, 22.3.2019
  4. Cohen, Nahoum: Bauhaus Tel Aviv. An Architectural Guide, London 2003
  5. UNESCO. White City of Tel Aviv - The Modern Movement. http://whc.unesco.org/en/list/1096, 2020
  6. Gradwohl, Noëmi: SRF Schweizer Radio und Fernsehen. White City - Wie lebt es sich im Bauhaus-Erbe?. https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/bauhaus-in-tel-aviv-white-city-wie-lebt-es-sich-im-bauhaus-erbe, 19.05.2019
  7. Bundesministerium für Bau-, Stadt- und Raumforschung, BBSR (Hg.): Weiße Stadt Tel Aviv: Zur Erhaltung von Gebäuden der Moderne in Israel und Deutschland., 2015
  8. Lindemann, Melanie / Poppe, Lea: Interview per Mail mit Dr. Micha Gross, Mitgründer des Bauhaus Center Tel Aviv, Hannover 02.06.2020
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