Le Havre, die Stadt mit dem zweitgrößten Hafen Frankreichs, wurde durch Bombenangriffe der Alliierten 1944 nahezu vollständig zerstört. Die Leere, die der Krieg im Stadtzentrum von Le Havre hinterlassen hatte, war für den Architekten und Stadtplaner Auguste Perret ein gigantisches Experimentierfeld. Seine revolutionäre Herangehensweise „table rase“ („Neuanfang“) und eine Vielzahl an räumlichen und technischen Innovationen, ließen die neue Planstadt Le Havre zu einer der modernsten Städte Europas werden.

Geschichte 

Die Gründung der Hafenstadt Le Havre geht auf das Jahr 1517 zurück. Zu dieser Zeit wurde der internationale Seehandel vom Mittelmeer zum Atlantik verlagert. Ein Umstand, aus dem besonders Nordeuropa seinen Nutzen zog. Im Rahmen dieser Entwicklungen beauftragte Frankreich, unter der Herrschaft von König Francois I., den Bau einer befestigten Hafenanlage in dem strategisch günstig gelegenen Fischerdorf an der  Mündung der Seine. Die Entwicklung Le Havres wird von da an von einem kontinuierlichen Wachstum der Stadt und ihrer strategischen und wirtschaftlichen Bedeutung geprägt. Sowohl die Stadtstruktur als auch der Hafen wurden seit dem 16. Jahrhundert mehrmals erweitert und reorganisiert.1 Während Le Havre im Ersten Weltkrieg keinerlei Zerstörung erfuhr, wurde die von den Deutschen eingenommene Stadt 1944 durch mehrtägige Luftangriffe der Alliierten fast vollständig ausgelöscht.2 In den darauffolgenden Jahrzehnten erklärte man den Wiederaufbau der Stadt zur „nationalen Priorität“3. In Le Havre sollte möglichst kostengünstig und schnell Wohnraum entstehen, um der dramatischen Obdachlosigkeit entgegenzuwirken. Mit der Planung beauftragte die Regierung im Jahr 1945 den Architekten Auguste Perret. Er entwickelte gemeinsam mit seinem Team einen unverwechselbaren Stadtplan, der das Bild des  Zentrums bis heute prägt. Sein revolutionäres Vorgehen ließ in der zerstörten Hafenstadt eine zeitlose Architektur aus farbigem Beton entstehen, die zum Wiederkennungsmerkmal Le Havres wurde. Unter anderem bauten hier angesehene Architekten wie Oscar Niemeyer, Guillaume Gillet oder Georges Candilis. Heute ist die 2005 zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannte Stadt immer noch ein wichtiger Umschlaghafen für den internationalen Seehandel.2 

Übersicht

Gründung Le Havres, 16. Jhd.
Zweite Stadterweiterung, 19. Jhd.
Industrialisierung 20. Jhd.

Regelwerk 

Das architektonische Konzept, das dem Stadtzentrum Le Havres zugrunde liegt, basiert auf einer Synthese aus den vorkriegszeitlichen Stadtstrukturen und einem von Auguste Perret im Zuge des Wiederaufbaus ausgearbeiteten städtebaulichen Rasters. Der Generalplan strukturierte sich durch zwei grundlegende Achsen. Die erste verläuft von Osten nach Westen parallel zum “Bassin du Commerce” und bestimmt das orthogonale, städtische Raster. Die zweite Achse ist parallel zur Uferstraße ausgerichtet und definiert die Anordnung für die Umgebung des “Bassin de Roy” sowie das südliche, ufernahe Viertel Perrey. Die drei historischen Achsen  „Avenue Foch“, „Rue de Paris“ und die Uferstraße „Boulevard de Francois“ bilden heute ein  monumentales Dreieck. Sie stehen symbolisch für die Verbindung zwischen  Hafen,  Stadtzentrum  und Meer. Repräsentative Gebäude und Hochpunkte (Rathaus,  „Porte Oceane“,  „Front de Mer Sud“) markieren jeweils die Spitzen des Dreiecks.2 Die Kirche  „Saint-Joseph am Boulevard de Francois“ gehört ebenfalls zu einem der wichtigsten Hochpunkte Le Havres. Das von Perret geplante 107 m hohe Gebäude erscheint vom Meer aus wie ein imposanter Leuchtturm.4 

Le Havre wurde durch Perrets Planung in drei Einheiten unterteilt. Die städtebauliche Struktur basiert auf einem orthogonalen Raster von 100 x 100 m. Für die Blockrandbebauung der  Wohninseln  wurde ein Rastermaß von 6,24 x 6,24 m festgelegt, das wiederum in Module von 52 cm unterteilt werden kann.5 Charakteristisch sind außerdem die 47,5 m hohen und 12 m  schmalen Wohntürme, die in die vier- bis fünfgeschossige Blockrandbebauung integriert sind. Umlaufende Balkone im vierten und siebten Geschoss strukturieren die Türme. Die restliche Bebauung wurde mit Balkonen im ersten und im höchsten Geschoss ausgestattet. So entsteht eine gleichförmige Struktur, die durch eine variantenreiche Höhenentwicklung und häufige Öffnungen in den Blockrändern unterschiedliche Freiräumcharaktere generiert.6 

Das monumentale Dreieck

Entwicklung 

Auguste Perrets Leitsatz „zuerst kommt die Standardisierung“6 bündelte mehrere Intentionen, die die Besonderheiten des Aufbauprozesses widerspiegelten. Man experimentierte mit standardisierten Bauteilen und Beton-Verarbeitungstechniken. Das Tragwerk blieb nach außen hin sichtbar und auf Dekorationen wurde verzichtet.6 Als Baumaterial wurden unter anderem Geröll und Schutt aus den Ruinen der zerstörten Hafenstadt verwendet.7 Durch das von Perret entwickelte Raster wurde die zur Verfügung stehende Grundfläche maximal ausgenutzt, Fassadenflächen wurden verkleinert und die Baukosten sowie die Bauzeit auf ein Minimum reduziert. So entstand eine moderne und innovative Planstadt, die in ihrem Grundwesen, dem Raster, einen Dialog mit dem alten, zerstörten Le Havre eingeht. Die wichtigsten Stadtbausteine der Vorkriegszeit wurden im Wiederaufbau an derselben Stelle neu errichtet und trotz des Kostendrucks aufwendig inszeniert. Perrets radikales planerisches Vorgehen und die Entstehung eines einheitlichen Stadtbildes, wurden besonders durch zwei Aspekte gefördert.6 Zum einen eröffnete die Nachkriegssituation des „table rase“8 ganz neue Möglichkeiten für Perret und sein Team: „Dass wir nichts haben, von dem wir ausgehen können, sollten wir als Chance begreifen.“2. Zum anderen wurden im Zuge der Planungen eine Regulierung der Bevölkerungsdichte und - damit einhergehend - eine Neuverteilung des Bodens vorgenommen. Das mit 2500 Einwohner*innen pro Hektar überbevölkerte  historische Zentrum  erfuhr eine Umverteilung auf die Nachbarviertel (daraufhin 700-900 Einwohner*innen pro Hektar).9 
Die Planstadt Perrets wurde immer wieder ergänzt und im Laufe der Jahre entstanden moderne Architekturen, die nicht mehr auf dem einstigen Raster basierten. Es lassen sich zwar Bezüge zur Perrets Stadtplanung und seinen Architekturen herstellen, jedoch werden neue Konzepte mit einer freieren Architektursprache verfolgt. Beispielhaft für diesen Dialog der Architekturen erscheint der  skulpturale Gebäudekomplex  von Oscar Niemeyer aus dem Jahr 1982 auf dem quadratisch angelegten Platz am „Bassin du Commerce“.10 

Wohninsel
Wohnblock mit Wohnturm
flacher Wohnblock
Ansicht Bebauung

Verkehr/Infrastruktur 

Die übergeordnete Zuwegung ins Zentrum Le Havres wird über zwei Erschießungsachsen definiert. Die Ost-West-Achse verläuft parallel zum  „Canal de Trancarville”  und entwickelt sich weiter entlang der Uferpromenade des Stadtzentrums. Neben dem vierspurigen „Boulevard de Leningrad“ verlaufen außerdem Bahntrassen, die beim zentral gelegenen  „Bassin Vaudan”  im  Kopfbahnhof  der Hafenstadt enden. Die Nord-Süd-Achse, welche den fünf Kilometer entfernten  Flughafen  im Norden Le Havres mit dem Stadtzentrum verbindet, entwickelt sich entlang der westlichen Uferpromenade. Zudem spielt für Le Havre, als Standort des zweitgrößten Hafen Frankreichs, die Anbindung über den Seeweg heute noch eine große Rolle. Auch die Straßenführung und Struktur des Zentrums sind maßgeblich durch die großen Straßenachsen aus der Vorkriegszeit, dem heutigen  monumentalen Dreieck  definiert. Diesem untergeordnet, bildet sich das orthogonale Raster der Wohninseln. Diese sind je nach Unterteilungsprinzip nochmals durch ein weiteres, drittes Straßennetz gegliedert. Das sich in allen Gliederungsebenen wiederholende orthogonale Straßenraster prägen die Stadtstruktur und -gestalt in besonderem Maße. 

Place Charles-de-Gaulle
Porte Oceane
Vorplatz Notre-Dame

Öffentlicher Raum 

Für den Generalplan des neuen Le Havres wurde eine städtebauliche Lösung angestrebt, bei der Qualitäten wie Licht, Luft und Sonne mit einer maximalen Bebauungsdichte kombiniert wird. Perret erkannte dabei den besonderen Wert der  Innenhöfe  der Blockrandbebauungen. Der von ihm generierte private Freiraum wird heute gemeinschaftlich von den Bewohner*innen genutzt. Die in Perrets Planung benannten  „fehlenden Wohninseln“ 6 wurden bewusst von Bebauungen freigehalten. Stattdessen realisierte man begrünte Anlagen und Plätze, die von den angrenzenden Wohninseln gefasst werden. Besondere historische Parkanlagen legte man – analog dem Umgang mit besonderen im Krieg zerstörten Gebäuden - wieder an. So verbindet heute der zentrumsnahe  „Saint Roch Park“, der zwischenzeitlich im Krieg vollständig zerstört wurde, das Stadtzentrum der Planstadt mit dem nördlich gelegenen alten Stadtviertel.6 Neben den Grünflächen spielte die Verbindung zum Wasser eine große Bedeutung in der Stadtplanung Le Havres: „(...) doch überall wollen wir, dass man den Ast eines Baums, eine spiegelnde Fläche oder den Wasserstrahl einer Fontäne sehen kann.“11 Das ehemalige Handelsbecken „Bassin du Commerce“  steht heute symbolisch für die Zeit vor der Industrialisierung, in der die Stadt noch eng mit dem Hafen verknüpft war. Heute ist es Teil des Stadtzentrums und eine historische Referenz für das moderne städtische Raster. Welche Rolle das Wasser in den Planungen spielte, verdeutlicht auch der Bau des Verbindungssymbols zum Meer: Das  „Porte de Oceane”  („Tor zum Ozean“), definiert bis heute einen der drei Punkte des  monumentalen Dreiecks.6 

Strassenschnitt Avenue Foch
Strassenschnitt Rue Louis Brindeau
Strassenschnitt Quai George V
Strassenschnitt Rue Edouard Larue

Programme 

Während im Prozess der Neuverteilung des Bodens die Wohnungen versetzt wurden, sollte der Einzelhandel möglichst wieder an gleicher Stelle wie vor dem Krieg angeordnet werden.9 Heute findet man in Le Havre Einkaufsstraßen vor, die von Perret in Anlehnung an die „Empire Klassik“ strukturiert wurden:  Freie, überdachte Galerien in den Erdgeschossen  vor den zurückversetzten Geschäftsflächen. Die fast fünf Meter hohen Erdgeschosse der Wohninseln definieren die Schnittstellen zwischen den privaten Wohnräumen und den breiten, öffentlichen Alleen. Die Hauptzugänge der Wohnbebauungen sind ebenfalls straßenseitig angelegt. Zusätzlich zu den internen Erschließungen der Gebäude wurden auch gemeinschaftlich genutzte Räume, wie Fahrradschuppen, Kinderwagen- und Technikräume in den Erdgeschossen angeordnet. Rampen führen weiter in die Untergeschosse, wo die Garagen und Kellerabteile der Apartmentwohnungen untergebracht sind. Während die Wohninseln straßenseitig einen sehr öffentlichen Charakter haben, sind die  Innenhöfe, die auch durch Nebeneingänge erschlossen werden können, eher von halbprivaten bis privaten Charakter.6 

Axonometrischer Schnitt Wohnbebauung
 

Auch interessant

Autor*innen

  • Tom Knopf (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Sommersemester 2020)
  • Charlotte Schwartz (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Sommersemester 2020)

Quellen

  1. Die Stadt Le Havre (Hg.): Die Stadt Le Havre: Le Havre, Weltkulturerbe. Auf den Spuren der Vorkriegsstadt. http://unesco.lehavre.fr/de/mehr-wissen/auf-den-spuren-der-vorkriegsstadt, 04.05.2020
  2. Abram, Joseph: „Le Havre ist Weltkulturerbe. Eine bahnbrechende Entscheidung der UNESCO“. In: Bauwelt, 45/2005, S. 13-21, 2005
  3. Die Stadt Le Havre (Hg.): Die Stadt Le Havre: Le Havre, Weltkulturerbe. Die Bilanz nach dem zweiten Weltkrieg. http://unesco.lehavre.fr/de/mehr-wissen/die-bilanz-nach-dem-zweiten-weltkrieg, 04.05.2020
  4. Die Stadt Le Havre (Hg.): Le Havre: Ma ville. Une ville chargee d'histoire. https://www.lehavre.fr/ma-ville/une-ville-chargee-dhistoire, 04.05.2020
  5. Die Stadt Le Havre (Hg.): Die Stadt Le Havre: Le Havre, Weltkulturerbe. Die ideale Stadt von 1946. http://unesco.lehavre.fr/de/mehr-wissen/die-ideale-stadt-von-1946, 04.05.2020
  6. Die Stadt Le Havre (Hg.): Die Stadt Le Havre: Le Havre, Weltkulturerbe.. Die Baustellen des Wiederaufbaus. http://unesco.lehavre.fr/de/mehr-wissen/die-baustellen-des-wiederaufbaus, 04.05.2020
  7. Schloemer, Hans / Springer, Axel SE (Hg.): Welt. Le Havre ist Poesie in Beton. https://www.welt.de/reise/staedtereisen/article170392374/Le-Havre-ist-Poesie-in-Beton.html, 08.11.2017
  8. Die Stadt Le Havre (Hg.): Die Stadt Le Havre: Le Havre, Weltkulturerbe. Die Bombenangriffe von 1944. http://unesco.lehavre.fr/de/mehr-wissen/die-bombenangriffe-von-1944, 04.05.2020
  9. Die Stadt Le Havre (Hg.): Die Stadt Le Havre: Le Havre, Weltkulturerbe. Die Neuverteilung des Grundbodens. http://unesco.lehavre.fr/de/mehr-wissen/die-neuverteilung-des-grundbodens, 04.05.2020
  10. Die Stadt Le Havre (Hg.): Die Stadt Le Havre: Le Havre, Weltkulturerbe. Die Erben der Moderne. http://unesco.lehavre.fr/de/mehr-wissen/die-erben-der-moderne, 04.05.2020
  11. Die Stadt Le Havre (Hg.): Die Stadt Le Havre: Le Havre, Weltkulturerbe. Das Stadtraster und das monumentale Dreieck. http://unesco.lehavre.fr/de/mehr-wissen/das-stadtraster-und-das-monumentale-dreieck, 04.05.2020
Zurück