Das Bild der Stadt Athen wird häufig mit der antiken Akropolis assoziiert. Doch findet sich bei genauerem Hinsehen in der griechischen Hauptstadt eine andere Architektur, welche die Stadtentwicklung noch sehr viel symbolischer prägte: die sogenannte „Polykatoikia“. Das griechische „Maison Dom-Ino“, mit seiner hohen Flexibilität und einfachen Bauweise, hat sich im Laufe der Jahrzehnte zum hybriden Grundmodul der Urbanisierung vieler griechischer Städte entwickelt und prägt bis heute deren Stadtbilder. Ein solches Beispiel ist die vorgelagerte Hafenstadt Piräus.

Geschichte 

Obwohl die Geschichte Athens mindestens 7500 Jahre bis in die Jungsteinzeit zurückgeht, ist das aktuelle Stadtbild Athens vergleichsweise jung. Nach den Unabhängigkeitskriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts (1821-1827) wurde das zerstörte Athen 1834 die neue Hauptstadt Griechenlands. 1 Die Neuplanungen u. a. von Schaubert und Kleanthes aus dem Jahr 1932 und von Leo von Klenze von 1934/35 waren die Grundlage für das heute moderne Erscheinungsbild. Der Akropolis und den bestehenden mittelalterlichen Strukturen Athens wurde ein System aus rechtwinklig verlaufenden Boulevards und diagonal zueinander angeordneten Stadtteilen gegenübergestellt.2 Auch für die Hafenstadt Piräus wurde 1834 ein Plan von Kleanthes und Schaubert nach den gleichen, additiven Grundprinzipien entworfen.1 Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts und der steigenden Wirtschaftsleistung begann ein Prozess der Verstädterung und der unaufhaltsamen Ausbreitung Athens. Fehlende administrative Handlungen und begrenzte Planungsvorgaben führten zur privatisierten Stadtentwicklung durch die Athener*innen. Insbesondere die frühen Migrationswellen ließen informellen Siedlungen außerhalb der Stadtgrenzen entstehen, die nachträglich in den Stadtplan von Athen integriert wurden. (extensive Stadterweiterung)3 Ein in den 50er-Jahren eingeführtes Finanzierungsmodell, das Antiparochi System, verbesserte die privaten ökonomischen Möglichkeiten und förderte größere Bauvorhaben von Wohn- und Mietshäusern.4 Grundstücke wurden zusammengelegt und ihre Bestandsbauten durch größere und höhere Gebäude ersetzt. (intensive Stadterweiterung)3 Mit der vom Staat verabschiedeten Bauordnung von 1929 wurde die Grundlage für den Gebäudetypus der Polykatoikia gelegt, welcher die griechischen Städte zu urbanen modernen Zentren transformierte und das Stadtbild, insbesondere auch Piräus, bis heute prägt.5

Übersicht und historische Planungen
Extensive & intensive Stadterweiterung durch Selbstregulation

Regelwerke

Die Polykatoikia war die pragmatische Antwort, den dringend benötigten Wohnraum in kurzer Zeit aufzubauen. Dieser Grundtypus besteht aus einem Stahlbetonskelett mit Fertigbauteilen und einem fest installierten Kern aus Treppenhaus und Aufzugsschacht. Es entstand ein Prototyp mit einfacher Konstruktionsweise, der sich unendlich oft und in verschiedenster Ausprägung und Variation in unterschiedlichen städtebaulichen Kontexten wiederholen ließ.5 Die Polykatoikia ist die griechische Um- bzw. Übersetzung des von Le Corbusier 1914/15 entwickelten Schemas der Maison Dom-ino.2 Die Struktur ist dabei vollständig von der Funktion des Gebäudes getrennt und ermöglicht ein Maximum an Flexibilität in der Programmierung und Nutzungsweise.6 Die Bauverordnung von 1929 ließ erstmals horizontalen Immobilienbesitz zu. Durch diese Anpassung, wurde die Polykatoikia vom exklusiven Wohngebäude zum Grundmodul der griechischen Urbanisierung. Die Verordnung legte auch die maximale Traufhöhe von 120 % der Straßenbreite fest. Darüber hinaus waren auch ein von der Fassadenkante zurückspringendes Dachgeschoss sowie Balkone und Erker zulässig. 5 Da die Baufelder an vielen Stellen nur eine geringe Tiefe aufweisen, sind sie oftmals fast komplett überbaut. Im Blockinneren bleibt daher meistens nur eine schmale Fuge von 5-7 m die minimale Belüftung und Belichtung gewährleistet. Die Gebäude orientieren sich mit ihren Balkonen und Veranden nach außen.

Kartierung Polykatoikias
 
Bauverordnung 1929
 

Entwicklung

Die Entwicklung der Polykatoikia lässt sich anhand der Änderungen durch die jeweils gültige Baubestimmung gut erläutern. Nach dem Krieg wurde diese 1955 erstmals aktualisiert, um den Aufschwung der Bautätigkeit zu unterstützen.5 Die zulässige Traufhöhe wurde von der Gesamthöhe entkoppelt, was mehrere Staffelgeschosse, sogenannte “Retiré-Appartements” , ermöglichte und zu der markanten, abgetreppten Gebäudeform führte. Die oberen Appartements waren von der Grundfläche kleiner, zählten jedoch zu den teuersten Wohnungen. Nach 1955 waren nur noch Balkone erlaubt und im Erdgeschoss ausgebaute Arkaden, sogenannte “Stoas”, zwingend vorgesehen. Sie sollten den öffentlichen Raum qualifizieren und insbesondere den Einzelhandel fördern.5 Verstärkt wurde dieses Vorhaben durch die 1973 eingeführten “Pilotis”. Dabei handelt es sich um einen durch freistehende Stützen definierten Eingangsbereich, der nicht mehr zur Nutzfläche des Gebäudes gehört und den öffentlich nutzbaren Raum vergrößert.5 Mit der letzten Änderung des Baurechts 1985 wurde erneut die Logik zur Bestimmung der Trauf- und Gebäudehöhe angepasst und erstmals auch Parkraum zwischen den Pilotis im Erdgeschoss als notwendig erachtet. Der Gebäudetypus entfernte sich von seiner repetitiven Einfachheit in Grundriss- und Fassadengestaltung und schien in seinem Entwicklungspotential an seiner Grenze angelangt.5

Bauverordnung 1955
Bauverordnung 1973
Bauverordnung 1985

Infrastruktur

Die Grundlage bildet ein zweckdienliches Raster des Straßensystems, welches sich in der Hauptrichtung an den Gegebenheiten der Halbinsel orientiert. Die beiden ursprünglichen Stadthälften von Piräus stehen in einem Winkel von 60° Grad zueinander und sind in sich orthogonal organisiert. An ihrem Schnittpunkt sahen die Architekten Schaubert und Kleanthes vermehrt öffentliche Gebäude, Gewerbe- und Hafennutzungen vor.1 Heute befindet sich dort immer noch der Bahnhof sowie der Fähranleger von Piräus. Über die U-Bahnlinie 1 und in Zukunft auch über die Linie 3 ist Piräus an das Stadtzentrum von Athen angebunden. Innerhalb von Piräus wird der Nahverkehr über Busse abgewickelt. Das vorgeschlagene Straßenraster stimmt in der östlichen Hälfte zudem in weiten Teilen mit den historischen Planungen von Hippodamos aus dem 5. Jh. v. Chr. für Piräus überein.1 Die übergeordneten Hauptstraßen haben eine Breite von ca. 25 m und meistens drei Fahrspuren. Die Nebenstraßen sind maximal 12 m breit. Ein Großteil ist als Einbahnstraßen, mit begleitetem Parken auf mindestens einer Seite, konzipiert. Insbesondere in den schmalen Seiten bleibt für den Fußgänger nur wenig Platz, sodass diese zusätzlich durch Geländer und Poller vom Straßenraum getrennt werden. Trotz der Enge sind viele der Straßen zusätzlich mit Baumpflanzungen versehen.

Hauptstraßen
Nebenstraßen

Öffentlicher Raum

Ungeplant und Vergessen. Die dringliche Notwendigkeit im Bau von Wohnraum, fehlende Freiraumplanung, private Bauinvestoren und illegale Siedler, gepaart mit einer Laissez-fair Städtebaupolitik führten zu einem Stadtgebiet ohne große Plätze und Parks. Während des schnellen und ungeregelten Baus der Polykatoikia wurde nur selten über die Gestaltung und die Bedeutung des Freiraums nachgedacht. So wurde der öffentliche Raum in Athen zum Überbleibsel der gebauten Stadt.4 Die enorme Verdichtung führte dazu, dass insgesamt nur 3% der Stadtfläche öffentliche Park- und Freiflächen sind.6  Die wenigen vorhandenen Stadtplätze und -parks in Piräus ordnen sich in das orthogonale Straßenraster und die kleinteilige Parzellierung ein. Da sich der öffentliche Raum bisher aus dem Rest des privaten Gebäudes ergab, findet das öffentliches Leben in Athen größtenteils über die Aneignung und das „Besetzen“ von Straßen und Plätzen, Bürgersteigen und (noch) leeren Flächen statt. Über die Fassade der Polykatoikia treten der private und der öffentliche Raum in Interaktion: Dachterrassen, Balkone, Erker, gläserne Erdgeschosse und Pilotis ergeben eine urbane Außenhaut, die ein Zwischenspiel dieser beiden Sphären ermöglicht.2 Der Übergang zwischen Innen und Außen verschwimmt und das private Leben öffnet sich auf die Straße.4

Öffentliche Nutzung auf Straßenniveau

Programme

Der in Athen und somit auch in Piräus dominierende Gebäudetyp der Polykatoikia wurde ursprünglich als Wohntypologie gedacht. Doch das flexible und einfache Konstruktionssystem und deren Anpassungsfähigkeit an jegliche Nutzung stellte sich schnell als großes Potential heraus. Die ständige Weiterentwicklung und Variation in der Gleichförmigkeit der Polykatoikia, die erst auf den zweiten Blick sichtbar wird, ermöglicht eine hohe Nutzungsmischung.2 Die Nutzungsprogramme variieren von Wohnraum über Büros, Verkaufsflächen, kleine Shops, große Supermärkte bis hin zu Restaurants, Cafés und Werkstätten.5 Entgegen den ursprünglichen Absichten der Moderne ermöglicht die Reduktion der Polykatoikia auf einen funktionalen, nicht weiter determinierten Rahmen ermöglicht eine individuelle Aneignung. Die große Ansiedlung von öffentlicher Nutzung, wie Gastronomie und Verkauf, in den Erdgeschosszonen ist zurückzuführen auf die Baubestimmungen aus den 60er bis 80er Jahren. Die offenen Sockelgeschosse ermöglichen die Gebäudeöffnung auf Straßenniveau. In älteren Varianten der Polykatoikia finden sich oft Werkstätten oder KFZ-Stellplätze im Erdgeschoss.2

Variabilität im Grundriss
 

Auch interessant

Autor*innen

  • Jacob Fielers (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Sommersemester 2020)
  • Sarah Nicola (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Sommersemester 2020)

Quellen

  1. Papageorgiou-Venetas, Alexander / Stupperich, Reihnhard (Hg.): „Eduard Schaubert 1804-1860; Der städtebauliche Nachlass zur Planung der Städte Athen und Piräus“. In: Peleus Bd. 11, S. 9 f., 128, 130, 128, Möhnesee 2001
  2. Grabner, Martin: TUGraz DIGITAL Library. Pirgos Peiraia - Die Reparatur von Stadt und die Wiederherstellung von Urbanität mittels der räumlichen und ikonischen Aktivierung einer vertikalen Brache.. https://diglib.tugraz.at/download.php?id=576a8a46d2d17&location=browse, 2012
  3. Von Petz, Ursula (Hg.) / Schmals, Klaus M. (Hg.): Metropole, Weltstadt, Global City: Neue Formen der Urbanisierung, S.217-226, Irpud/ Dortmund 1992
  4. Dona, Sofia: „Geschwisterstädte – eine imaginäre Athengeografie in Zeiten der documenta“. In: Bauwelt, 13/2017, S. 26-33, 2017
  5. Aesopos, Yannis: „Die „Polykatoikia“ als Modul der modernen Stadt“. In: Bauwelt, 29/2004, S.14, 14, 16, 16, 17, 19, 17, 2004
  6. Woditsch, Richard: DepositOnce Technische Universität Berlin. PLURAL - Private and Public Spaces of the Polykatoikia in Athens. https://depositonce.tu-berlin.de/handle/11303/4715, 15.05.2015
    Zurück