Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelte sich in der Türkei die Leder- und Textilindustrie. Die anhaltende Landflucht führte zur Entstehung informeller Ansiedlungen in den Küstenregionen Istanbuls. Die Bewohnenden errichteten über Nacht selbstgebaute eingeschossigen Holzhäuser, die ”Gecekondus”, die teilweise noch heute zwischen den modernen mehrgeschossigen Wohnbauten zu finden sind.

Geschichte

Die erste Siedlung in Zeytinburnu entstand durch die Niederlassung einer Sekte, die “Priester aus Jerusalem”, nach der Eroberung Istanbuls durch die Osmanen im Jahr 1453. In dem Gebiet wurden zunächst verschiedene landwirtschaftliche Produkte wie Oliven und Früchte angebaut.1 Vor etwa 150 Jahren siedelte sich die erste Lederindustrie der Türkei in Zeytinburnu an. Die geeignete Lage an der Küste brachte die notwendigen Rahmenbedingungen, vor allem Wasser und Sonne, mit sich. Im Jahr 1927 folgte die Ansiedlung weiterer Textilindustrien, insbesondere der Webindustrie, in der Region. Die ausgeprägte Entwicklung des textilverarbeitenden Gewerbes fungierte als Anreiz für viele Arbeiter*innen der Umgebung, sich ebenfalls dort niederzulassen. Eine anhaltende Landflucht, steigende Bevölkerungszahlen und die dadurch entstehenden unkontrolliert und in kürzester Zeit wachsenden Gebiete an den Stadträndern, waren die Folgen der ausgeprägten Ansiedlung von Industrie und Handel. Diese Faktoren führten zur Entstehung von informellen Ansiedlungen, den “Gecekondus” als neue Siedlungstypologie im Stadtraum.2

Übersicht
Landflucht in Istanbul
Entstehung informeller Siedlungen

Entwicklung 

Mit den rapide steigenden Bevölkerungszahlen wuchs auch der Bedarf an Wohnraum. Oft errichteten die Bewohner über Nacht einfache illegale Häuser (”Gecekondus” = über Nacht errichtet).3 Um vor anstehenden Wahlen das Wohlwollen der Siedler*innen zu gewinnen, hat sie die Kommune jedoch gewähren lassen. Erlassene Amnestien, also die Minderung von Strafen sowie spätere Legalisierungen bedingten eine Aufwertung der Viertel, welche weiterhin mit einer verbesserten Infrastruktur (Verkehrsnetz, Abwasserentsorgung und Müllabfuhr) nachgerüstet wurden. Ende der 1970er-Jahre wurde verstärkt in die Gecekondus investiert, was eine weitere Verdichtung der Stadtstruktur zur Folge hatte4: Die Eigentümer*innen der Häuser sammelten bei zukünftigen Käufer*innen Geld und suchten sich einen Bauunternehmer, um auf die massiven eingeschossigen Bauten aufzustocken. So entstanden mehrstöckige Wohnhäuser (Apartkondus) mit mehreren Wohneinheiten, in denen die Eigentümer*innen der Häuser ebenfalls eine Wohnung erhielten. Diese Aufstockung von ursprünglichen einfachen Gecekondus zu großen Wohnbebauungen durch das Mitwirken verschiedener Akteur*innen wird als „Yap-Sat-Modell“ bezeichnet.5 Dadurch entwickelte sich Zeytinburnu im Laufe der Zeit von einer dorfähnlichen Siedlung zu einem urbanen Stadtquartier.2 Das Stadtbild von Zeytinburnu ähnelt in seiner spontanen Unregelmäßigkeit auch heute noch dem einer mittelalterlichen Stadt. Die ursprünglichen informellen Gecekondus tauchen jedoch nur noch vereinzelt auf. Durch die Landaneignung und die nachträglich erlassenen Legalisierungsgesetze der Landnahmen, erfuhren die Bewohnenden des Viertels einen starken sozialen Aufstieg. Bis heute leben unter den rund 290.000 Einwohner*innen jedoch viele Menschen, deren Familien einst aufgrund der Arbeitsmöglichkeiten in der Textilindustrie nach Zeytinburnu gezogen waren.2 

ursprüngliche Gecekondus ab 1945
verdichtete Stadtstruktur heute

einfaches Gecekondu
massivere Bauweise
Aufstockung zum Apartkondu

Verkehr und Infrastruktur

Trotz des ursprünglich informellen Wachstums am Stadtrand von Istanbul, ist Zeytinburnu heute gut an das öffentliche Verkehrsnetz der Stadt angeschlossen und sowohl mit dem Auto als auch mit der Bahn leicht erreichbar.2 Aufgrund der stattgefundenen extremen baulichen Verdichtung hat sich ein enges Straßennetz mit schmalen Gassen innerhalb des Viertels gebildet, welches dennoch von Autos und Bussen befahren wird. Gebäude mit Gewerbeflächen in der Erdgeschosszone sowie die davor angelegten Fußgängerwege mit Sitzmöglichkeiten werden häufig als Aufenthaltsraum genutzt.4 Oftmals sind die Straßenräume so beengt, dass mit dem ruhenden Verkehr entlang des Straßenrandes das Durchkommen von Fußgänger*innen und fahrenden Autos erschwert ist. Sammelparkplätze lassen sich vereinzelt im Bereich von Einkaufsstraßen finden. Da die Türkei erdbebengefährdet ist, birgt die hohe Dichte der nicht erdbebensicheren Bauten und die wenigen Freiräume eine Gefahr.2

Straßennetz
Hauptstraßen
Nebenstraßen

Öffentlicher Raum

Öffentlicher Aufenthaltsraum  in Form von Frei- oder Grünflächen ist in Zeytinburnu kaum zu finden2, was vor allem dem schnellen und unkontrollierten Wachstum des Stadtteils geschuldet ist. Nahezu alle Flächen sind bebaut oder als Straßenraum genutzt, vereinzelt lassen sich an den Straßenrändern Bäume finden. Der soziale Austausch findet in erster Linie zwischen den gewerblich genutzten Erdgeschosszonen und dem Straßenrand statt. Durch Baumreihen und Sitzbänke, insbesondere im Bereich der Hauptstraßen, wird den Bewohnenden dennoch vereinzelt die Möglichkeit des Zusammenkommens geboten.

öffentliche Erdgeschossnutzung

Programme 

Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die Nutzung der Bebauungen und der umgebenden öffentlichen Räume stark gewandelt. Die ursprünglichen einfachen Gecekondus, bestehend aus simplen eingeschossigen Holzbauten, die ländlichen Dorfstrukturen ähnelten, entwickelten sich mit der Zeit zu mehrstöckigen Townhouses. Vorhandene Freiflächen vor den Gecekondus wurden zunächst für den Ackerbau und die Selbstversorgung genutzt. Heute sind diese durch eine extreme Nachverdichtung großflächig überbaut. Das textilverarbeitende Gewerbe prägt Zeytinburnu jedoch bis heute. Arbeiten findet im Quartier verstreut vor Ort statt. Durch die Vermischung von Leben und Arbeiten im Viertel entsteht eine enge Gemeinschaft unter den Bewohnenden. Die Erdgeschosszonen der Townhouses werden größtenteils als Gewerbeflächen genutzt, insbesondere in Einkaufsstraßen oder an Straßenecken.4 

Gecekondu
Wohnhaus
Wohnhaus mit Gewerbenutzung
 

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Autor*innen

  • Julia Riechers (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Wintersemester 2020)
  • Sophia Rotermund (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Wintersemester 2020)
  • Lorenz Behrendt (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Wintersemester 2021)

Quellen

  1. Berking, Helmut / Faber, Richard: Städte im Globalisierungdiskurs, S. 128-130, 2002
  2. Altrock, Uwe et al.: Megacities und Stadterneuerung: Schwerpunkt "Megacities und Stadterneuerung". Beiträge aus Lehre und Forschung an deutschsprachigen Hochschulen, S.71-78, TU Berlin 2009
  3. Demirel, Zerrin / Demir, Hülya: Planungsrechtliche Aufgaben- und Problembereiche in der ländlichen und städtebaulichen Entwicklung der Türkei auf dem Weg nach Europa, S. 345, 2004
  4. Hirschbichler, Michael / Buschor, Michael: „Die Stadt der Akteure. Der informelle Transformationsprozess der Gecekondus“. In: Arch+, 195, 11/2009, S.90-91, 2009
  5. Kunze, Ronald (Hg.) et al.: Jahrbuch Stadterneuerung 2013 Das Ende der Behutsamkeit? Beiträge aus Lehre und Forschung an deutschsprachigen Hochschulen, S. 343-345, TU Berlin 2014
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