Geschichte
Die Entwicklung von Paraisopolis begann Anfang des 20. Jahrhunderts auf einem ehemaligen Farmgebiet: Im Jahr 1921 beschloss die Regierung, das Areal als Wohnstandort für wohlhabende Bürger*innen baulich zu entwickeln. Das städtebauliche Konzept sah hierfür eine strenge Geometrie mit rechteckige Blöcke und breiten Straßen vor. Das geplante orthogonale Verkehrsnetz wurde allerdings nicht an die stark hügelige Landschaft angepasst und wies daher an manchen Stellen eine erhebliche Steigung auf. 1 Mit der rasch aufkommenden Urbanisierung im Laufe der 20er-Jahre, wurde in São Paulo zwar die Infrastruktur ausgebaut, sie reichte jedoch nicht bis zu den Stadträndern. 2 Paraisopolis und andere Siedlungen am Rande der Stadt wurden immer mehr vernachlässigt. In den 60er-Jahren kamen zahlreiche Arbeiter*innen und Migranten*innen aus dem Norden und Nordosten Brasiliens und besiedelten informell den Stadtteil Paraisopolis.1 Sie bauten auf dem Areal in der zuvor angelegten Struktur ihre Häuser und es entwickelte sich eine Favela. Die angrenzenden Stadtteile wie Morumbi wuchsen dagegen schnell zu luxuriösen Vierteln mit Eigentumswohnungen, Geschäften und Gated Communities.3
Viele Bürger*innen kritisierten die Planungsmodelle der Regierung und forderten sie auf, auch außerhalb des Zentrums Maßnahmen zur Qualifizierung der Viertel vorzunehmen. Die Gemeinde willigte letztendlich dem Appell der Bürger*innen ein und begann ab 1980 damit, mithilfe von diversen sozialen Projekten, die Gegend aufzuwerten.4
Strukturelle Merkmale
Paraisopolis zeichnet sich durch eine sehr dichte Bebauungsstruktur aus. Ausgangspunkt für diese Bebauung war das vorhandene Straßennetz mit rechteckigen Wohnblöcken von 120 m x 240 m.4
Die an die Hauptstraßen grenzenden Wohnhäuser orientieren sich an deren Achsen. Mit kleineren Vor- und Rücksprüngen versehen, erfolgt die Erschließung der vorderen Gebäude größtenteils von der Hauptstraße aus. Enge Gassen dienen der internen Nutzung und Erschließung und bilden zwischen den inneren Wohneinheiten private Flächen aus.
Die Höhe der Einheiten variiert zwischen einem Geschoss und fünf Geschossen, je nach den finanziellen Situationen und dem Bedarf der Bewohner*innen. Das Erscheinungsbild der meisten Wohnhäuser beruht auf einer Skelettbauweise, welche mit Mauerwerk oder Beton ausgefacht ist.
Entwicklung
In den Anfängen der Besiedlung Paraisopolis, verwendeten die Arbeiter*innen und Migranten*innen zum Bau ihrer Häuser hauptsächlich improvisierte Materialien. Die von Armut geprägte Bevölkerung benutzte dabei alles, was für den Bau eines einfachen Verschlags infrage kommen könnte. Auch aus Furcht vor einer Räumung der informellen Siedlung wurde auf Materialien wie Pappen oder Bleche zurückgegriffen. Mit der Bereitstellung von Strom- und Wasser, wuchs die Bereitschaft, die Hütten mit massiverem Material umzubauen. Die Bewohner*innen ertüchtigten ihre Wohnungen, sobald ihre finanziellen Reserven dies ermöglichten. Dafür nutzten sie hauptsächlich Mauerwerksstein.4 Üblicherweise wurden in den Erdgeschossen Ladengeschäfte eingerichtet, welche durch Garagentore zu den Straßen hin geöffnet wurden. Anschließend zog die dort lebende Familie in ein darüber errichtetes Geschoss. Eine außenseitige Treppe dient zur Erschließung. Auch andere Faktoren konnten und können zu einer Aufstockung der Häuser führen, wie eine Fremdvermietung oder eine Vergrößerung des Haushalts. Durch die starken Hanglagen - vor allem im Südosten Paraisopolis - sind die Bewohner*innen gezwungen, ihre Häuser der Topografie anzupassen. Die vertikale Struktur lässt sich durch Treppenaufgänge und schmale Gassen erschließen.1 Die oberen Stockwerke verfügen üblicherweise über einen Außenbereich, wie einen Balkon oder eine Dachterrasse.
Verkehr und Infrastruktur
Paraisopolis entstand auf Basis eines zuvor angelegten städtischen Straßennetzes, welches durch zusätzliche Wege ergänzt wurde. Im Vergleich zu den äußeren Bereichen, bei denen das ursprüngliche Straßennetz durch Erosionen in seiner ehemaligen Form teilweise aufgelöst wurde, ist es vor allem im Zentrum heute noch gut ablesbar. An den Hanglagen wurden aus alten Straßen teilweise steile Fußgängerwege. Das Areal wird von der Hauptzufahrtsstraße „Avenida Giovanni Gronchi” aus erschlossen, welche die Verbindung zum Stadtteil Morumbi herstellt. Diese formt gleichzeitig auch die Grenze der Favela und trennt sie räumlich von der Umgebung ab.5 Die Hauptzufahrtsstraße verfügt über mehrere Buslinien, die auch durch die Straße „Avenida Hebe Camargoden“ den östlichen Teil der Favela verbindet. Die orthogonalen Hauptstraßen der Favela, welche 8 m breit und beidseitig befahrbar sind, dienen als Orientierungspunkte im kleinteiligen Netz der zweiten Straßenhierarchie - der gassenartigen Nebenstraßen, die sie umgeben. Im Vergleich zu den Hauptstraßen, werden die Nebenstraßen mit zunehmender Privatsphäre schmaler und sind teilweise nur 3 bis 4 m breit. An diesen Stellen gibt es keine Trennung zwischen Gehwegen und Fahrspuren. Sie haben zum Teil einen privaten Charakter. Noch privater wirken weitere Fußwegeverbindungen zwischen den Häusern, die zumeist nur rund 1 m breit sind.
Öffentlicher Raum
Größere Freiflächen sind in Paraisopolis nur kaum zu finden. Aufgrund des Mangels spielt sich das öffentliche Leben auf den Straßen ab. Hinter den Häusern entlang der Hauptstraßen findet sich ein organisch gewachsenes, dichtes Baugefüge mit kleineren Gassen und Plätzen, die als Orte des sozialen Zusammenlebens eine wichtige Funktion einnehmen. Je nach Tageszeit werden die Straßen mit unterschiedlichen Aktivitäten belegt. Am Tag erweitern Ladenbesitzer*innen ihre Verkaufsfläche um den Straßenbereich und wechseln sich mit fliegenden Händler*innen ab. Freiluftmärkte und -werkstätten finden ebenso im öffentlichen Straßenraum ihren Platz. Kinder nutzen die Gassen zum Spielen und am Abend werden in den Straßen Festivitäten abgehalten. Oftmals verfügen kleinere Straßen über keinen Namen oder sind nur den Bewohner*innen bekannt. Die Namen der größeren Straßen tragen zur Validierung und Sichtbarkeit der Favelabewohner*innen bei.6
Programme
Die Geschosshöhen der Häuser in Paraisopolis entlang der Straßen sind zumeist höher als in den Blockinnenbereichen. In reinen Wohngebieten werden sie hingegen niedriger. In der Regel wird das Erdgeschoss als Gastronomie- oder Gewerbefläche oder als Werkstatt genutzt. Die Anzahl an Geschäften ist an den Hauptstraßen am höchsten und in den Wohngegenden eher gering. Durch weite Toröffnungen können die kleine Geschäfte gänzlich zur Straße hin geöffnet werden, was eine besonders lebhafte Straßenatmosphäre erzeugt. Der Straßenraum dient dabei als Erweiterung der Geschäftsfläche und kann als zusätzlicher Raum für Waren oder Sitzgelegenheiten genutzt werden. In den oberen Geschossen befinden sich die Wohnräume. Durch die stetige Aufstockung von Geschossen können die Häuser bis zu fünf Etagen erreichen. Üblicherweise prägen Balkone und Dachterrassen die Außenbereiche. Die Bebauung im Inneren der Blöcke zeichnet sich durch ihre extrem hohe Dichte aus, wodurch ein enger nachbarschaftlicher Kontakt zwischen den Bewohner*innen entsteht.6
Sozioökonomische Dimensionen
Für eine lange Zeit wurden die baulichen und sozialen Probleme in Paraisopolis von der Regierung weitgehend ignoriert. Erst durch den demokratischen Paradigmenwechsel in den 1980er-Jahren erhielt die Siedlung mehr Aufmerksamkeit. Dennoch leidet der Großteil der Bewohner*innen immer noch unter der Stigmatisierung der Favela, welche mit Kriminalität und Gewalt verbunden wird.1 Viele dieser Menschen fühlen sich von der Gesellschaft ausgeschlossen; einige von ihnen wurden von ihrem ehemaligen Wohnort vertrieben oder verloren durch Umweltkatastrophen ihre Häuser. Weniger als die Hälfte der Bewohner*innen hat eine Schulbildung und haben dadurch geringe Chancen, ihre Lebensumstände zu verbessern. Oftmals müssen Kinder ihre Familien finanziell unterstützen und die Schule abbrechen, um Arbeit zu suchen. Der Großteil der Bewohner*innen arbeitet im Niedriglohnsektor im wohlhabenderen Morumbi. Dennoch haben die Bewohner*innen ein starkes Gemeinschaftsdenken. Mithilfe von selbst ernannten „Straßenpräsidenten*innen“, welche jeweils 50 Familien betreuen und im Kontakt mit den Behörden stehen, koordinieren sie das Geschehen in der Favela. Die hauptsächlich im Niedriglohnsektor arbeitenden Bürger*innen sind auf Solidarität angewiesen, wie zum Beispiel auf kostenlose Essensausgaben, medizinische Hilfestellungen oder kleine Nebeneinkommen durch die Mitarbeit in Gemeinschaftsprojekten. Die Organisationen bemühen sich um öffentliche Spendengelder und Investoren*innen, um die Wirtschaft innerhalb der Favela zu stärken.7
Politische Dimensionen
Mit der Zeit wurden zahlreichen Bewohner*innen der Favela aufgrund einer längeren Aufenthaltsdauer, Eigentumsrechte über die Grundstücke gewährt. Doch die schrittweise Privatisierung des Landbesitzes in den vergangenen Jahrzehnten führte auch dazu, dass die Stadt heute nur wenige Möglichkeiten hat, Urbanisierungsprojekte im Stadtteil durchzuführen. In diesem Zusammenhang veröffentlichte die Stadt São Paulo im Jahr 2006 zwei Dekrete: Das Erste ermöglicht es Eigentümer*innen, die Schulden bei der Stadt haben, ihre Grundstücke an die Gemeinde zu spenden, um im Gegenzug von ihren Schulden befreit zu werden. Im zweiten Dekret wird die Schenkung von schuldfreien Grundstücken an die Stadt, im Austausch für die Bescheinigung des übertragbaren Baupotenzials geregelt.8 Die Eigentümer*innen erhalten damit die Erlaubnis ein anderes Grundstück zu bebauen.9
Auch interessant
Autor*innen
Quellen
- Taubenböck, Hannes / Wurm, Michael: ResearchGate. Die Frucht des Paradieses - Reflektionen über den Besuch einer Favela in Sao Paulo. https://www.researchgate.net/publication/259899239_Die_Frucht_des_Paradieses_-_Reflektionen_uber_den_Besuch_einer_Favela_in_Sao_Paulo, 2013
- Elewa, Ahmed: „ Enhancing The Quality Of Urban Life In Urban Poverty Areas Through A Strategy Of Integral Multi Approaches“. In: IEREK Research & Knowledge Enrichment, International Journal on Proceedings of Science and Technology, 2020
- Giebel, Naemi et al.: Philipp Sebastian. Urbanisierung und Stadtentwicklung in Brasilien. https://philippsebastian.files.wordpress.com/2011/08/brasilien_2.pdf, 2020
- Fix, Mariana et al.: Akademia. Case study: São Paulo, Brazil In: The Challenge of Slums – Global report on human settlements. https://www.academia.edu/35588848/Case_study_São_Paulo_The_Challenge_of_Slums, 2003
- Spiro, Annette et al.: „Favela Metropolis, Berichte und Projekte aus Rio de Janeiro und Sao Paulo Bd. 92“. In: Werk, Bauen + Wohnen, 2005
- Pimentel Pizarro, Eduardo: ResearchGate. Paisagem e Ambiente. Sistema de espaços livres e espacialidades da esfera pública em favela: os casos de paraisópolis, da linha e do nove em são paulo. https://www.researchgate.net/publication/311783088_Sistema_de_espacos_livres_e_espacialidades_da_esfera_publica_em_favela_os_casos_de_Paraisopolis_da_Linha_e_do_Nove_em_Sao_Paulo, 2016
- Horwood, Christopher / , UN-Habitat (Hg.): United Nations Human Settlements Programme (UN-HABITAT). São paulo a tale of two cities . https://unhabitat.org/sao-paulo-a-tale-of-two-cities-2, 2010
- São Judas Universidade (Hg.): Universidade São Judas Tadeu. Confi gurações espaciais da interface entre os habitantes e a natureza da cidade. O caso da favela de Paraisópolis. https://www.usjt.br/biblioteca/mono_disser/mono_diss/057.pdf, 2008
- Ciudade de Sao Paulo. Urbanismo e Licenciamento: Transferência do Direito de Construir. https://www.prefeitura.sp.gov.br/cidade/secretarias/licenciamento/desenvolvimento_urbano/legislacao/zoneamento/index.php?p=238151,, 27.01.2022