Das Hansaviertel in Berlin vereint Werke der bekanntesten Architekt*innen der Nachkriegszeit an einem Ort. Das Entstehen dieser einzigartigen Sammlung modernen Städtebaus und moderner Architektur ist der einzigartigen Rolle Berlins während des Kalten Krieges zu verdanken. In der geteilten Stadt wurden Städtebau und Wohnungsbau zum Schauplatz der ideologischen Auseinandersetzung und führte zur Errichtung des Hansaviertels als Symbol für die bundesdeutsche Demokratie.

Einleitung

Das Hansaviertel befindet sich im Berliner Bezirk Mitte und wird im Norden durch die Spree und im Süden durch den Tiergarten begrenzt.1 Das jetzige Hansaviertel wurde auf den Fundamenten des alten Stadtteils erreicht, eines gründerzeitlichen Wohngebiets, das im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört wurde. Das Hansaviertel ist ein Zeugnis städtebaulicher Leitbilder der 1950er und 1960er Jahre, die im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (auch: Interbau oder IBA 57) 1957 realisiert wurden. In der Nachkriegszeit entstanden miteinander konkurrierende und sich aufeinander beziehende Entwicklungen im Städtebau von West- und Ostberlin, die im Bau des Hansaviertels im Westen und der Karl-Marx-Allee im Osten gipfelten.

Ausgehend von der Charta von Athen von 1933 standen bei der Planung des Hansaviertels Rationalität, Funktionstrennung und Durchgrünung im Vordergrund.1 Zudem sollte das Hansaviertel mit seiner progressiven Formgebung als „Schaufenster der Freiheit“ im ideologischen Wettbewerb der Systeme eine prominente Stellung einnehmen. Während der Westen sich maßgeblich mit der internationalen Moderne als Baustil identifizierte, bediente sich das ostdeutsche Regim eines regionalen Historismus.2

Die beiden Vorzeigeprojekte hatten auch innerhalb Berlins eine prominente Stellung inne. Sie befinden sich beide auf der, auf das Brandenburger Tor zulaufenden Ost-West-Achse. Somit ist die Lage des Hansaviertels politisch bedeutend, auch weil es sich in unmittelbarer Nähe eines möglichen (und später umgesetzten) Regierungsviertels am Brandenburger Tor befindet, durch welches der Anspruch, Berlin zur Hauptstadt eines geeinten Deutschlands zu machen, unterstrichen worden wäre.1

Aus heutiger Perspektive kann aber auch ein kritischerer Blick auf das Hansaviertel gewagt werden. Die Leitbilder der Charta von Athen stehen teils konträr zu aktuellen Ideen des Städtebaus, die etwa 2007 in der Charta von Leipzig festgehalten wurden. Anstelle der Funktionstrennung und der geringen baulichen Dichte, die bei der Planung des Hansaviertels maßgebende Konzepte waren, gilt heute die gemischte und verdichtete Stadt als Leitbild für eine nachhaltige Stadtentwicklung.3

Lage des Hansaviertels im Bezirk Berlin-Mitte

Geschichte

Im Zweiten Weltkrieg wurden allein in Berlin etwa 500.000 Wohnungen zerstört. Das Ausmaß der Zerstörung ermöglichte Stadtplaner*innen deutschlandweit einzigartige Neuordnungen der Städte.4 Es wurden Ideen der autogerechten Stadt umgesetzt, wie mit dem Cityring in Hannover, oder große Wohnvorhaben wie die Neue Vahr in Bremen, die bei ihrer Entstehung das größte zusammenhängende Wohnprojekt Europas war.5 In kürzester Zeit musste in Deutschland möglichst viel Wohnraum geschaffen werden, um die vielen Wohnungslosen unterzubringen. Gleichzeitig sollten neue Ansätze im Städtebau für die „Stadt von morgen“ verfolgt werden: Die einzelnen Stadtteile sollten entmischt werden, sie sollten durchgrünt und die Planung auf die Menschen bezogen sein. Außerdem sollten Licht, Luft und Sonne in die Städte gebracht werden.1

In Berlin wurde ein neuer Flächennutzungsplan aufgestellt, mit dem Ziel, die Bebauung der Innenstadt wesentlich aufzulockern und die Stadt so weit wie möglich zu durchgrünen, um das steinerne Meer der hochverdichteten Mietskasernen aufzulösen.4 Die Mietskaserne hatte nach damaligem Empfinden eine zu hohe Bebauungs- und Belegungsdichte, entsprach nicht gewachsenen hygienischen Ansprüchen und widersprach dem Ideal der Funktionstrennung, da in ihr oft Gewerbe, Industrie und Wohnen gemischt waren.1 Sie sollte zugunsten einer aufgelockerten Stadtlandschaft mit getrennten Funktionen weichen.

In der Planung des Hansaviertels finden sich alle diese Ideen der Nachkriegszeit wieder. Das organisatorische Grundgerüst für den Wiederaufbau bildete die Interbau 1957. Bei der Bauausstellung sollten in der „Stadt von morgen“ neue städtebauliche Ideen präsentiert werden und städtebauliche, bautechnische, architektonische, soziologische und rechtliche Erfahrungen für den Wiederaufbau gesammelt werden.1 Die Gebäude des Hansaviertels wurden zwischen 1955 und 1960 errichtet, sodass bei Ausstellungseröffnung nur etwa ein Drittel der Gebäude fertiggestellt war.

Die Zusammenarbeit von 53 Architekt*innen aus dem In- und Ausland bei der Interbau sollte die Verbundenheit der freien Völker der Welt symbolisieren.4 Jeder der beteiligten Architekt*innen sollte seine Vorstellung vom modernen Wohnen an einem Beispiel zeigen, das sich in den Richtlinien für öffentlich geförderten Wohnungsbau bewegte. Die Grundlage der Planung bildete ein, aus einem Wettbewerb hervorgegangener, städtebaulicher Masterplan von Willy Kreuer und Gerhard Jobst. Er hatte zum Ziel, einerseits das Grün des Tiergartens in das Viertel hineinzuziehen und andererseits die gleiche Einwohnerzahl mit Wohnraum zu versorgen, wie im alten Hansaviertel.4 Zusätzlich zu den Wohngebäuden wurden einige öffentliche Gebäude und Einrichtungen auf dem Gelände der Interbau realisiert, wie zwei Kirchen und die Akademie der Künste (Werner Düttmann, 1958-1060). Außerhalb des Hansaviertels entstand Le Corbusiers Unité d'Habitation „Typ Berlin“ (1958).

Parzellenplan des kaiserzeitlichen Hansaviertels
Parzellenplan als die Grundlage für die Interbau 1957
Schwarzplan des kaiserzeitlichen Hansaviertels
Schwarzplan Hansaviertel nach dem Zweiten Weltkrieg
Schwarzplan Hansaviertel heute

Regelwerk

In seiner Planung knüpft das Hansaviertel an die Ideen des Wohnungsbaus der 1920er Jahre an. Charakteristisch für seinen Aufbau sind die Solitärbauten in verschiedensten Größen und Proportionen. Die neue offene Stadtlandschaft sollte exemplarisch für die Befreiung von alten Bau-, Stadt- und Herrschaftsformen dienen2, indem der alte Stadtgrundriss fast vollständig ersetzt wurde. Stattdessen standen das Individuum und dessen Mobilität im Vordergrund.2

Die Gebäude im Hansaviertel lassen sich in drei große Gruppen einteilen: Einfamilienhäuser von ein bis zwei Geschossen, Zeilenbauten mit vier bzw. acht bis zehn Geschossen und Punkthochhäuser mit sechzehn bis siebzehn Etagen. Die fünf Punkthochhäuser sind entlang der S-Bahn positioniert und von weitem erkennbar. Sie sorgen innerhalb des locker bebauten Viertels für den notwendigen Wohnraum.6 Die viergeschossigen Zeilenbauten sind in einer schrägen Staffelung zwischen Bahn und Klopstockstraße angeordnet.4 Im Inneren des Viertels befinden sich die sechs acht- bis zehngeschossigen Zeilen, die entweder in Ost-West- oder in Nord-Süd-Richtung angeordnet sind. Die Einfamilienhäuser sind als Teppichbebauung angelegt, springen aber häufig aus der monotonen Reihung und bilden somit ein bewegtes Bild, in welchem Gebäude und Grünfläche eine Einheit bilden.4

Die Baukörper begrenzen in ihrer Anordnung eine Reihe großer Grünflächen, die als Fortsetzung des Tiergartens wirken, aber auch die Solitäre zusammenbinden. Daher hat das Viertel für einen innerstädtischen Bereich eine relativ geringe Bebauungsdichte.1

Heute fällt es damit aus dem Stadtbild von Berlin heraus, das noch zum großen Teil aus der gründerzeitlichen Stadtstruktur besteht, von der das Hansaviertel sich bewusst absetzen wollte.

Städtebaulicher Lageplan
Punkthochhaus
Zeilenbau
Bungalow

Entwicklung

Sowohl das Hansaviertel als auch die Karl-Marx-Allee werden heute als ein Zeugnis des Kalten Krieges, als ein Zeugnis für vergangene Visionen und als ein Symbol für die Aufbruchssituation nach dem Zweiten Weltkrieg wahrgenommen.2 Damit haben sie einen besonderen Wert in Berlin, der sich auch in seinem Status als Denkmal und in dem Weltkulturerbevorschlag niederschlägt, den die Stadt Berlin gemeinsam für die beiden Bauvorhaben eingereicht hat.7 Dass es sich beim Hansaviertel um ein einzigartiges geschichtliches Relikt handelt, ist unumstritten. Fraglich ist jedoch, wie aktuell seine Leitbilder heute noch sind.

Im Hansaviertel ließen sich schon in den 1980er Jahren Zeichen eines Umdenkens feststellen. Im alten Informationspavillon (Hermann Fehling, Daniel Gogel und Peter Pfankuch), in dem während der Interbau moderne Ideen zur Stadt von morgen gezeigt wurden, gab es nun Ausstellungen zur Idylle der Hinterhöfe und Mietskasernen in Berlin.2 Dies fiel in eine Zeit, in der die Idee von der autogerechten Stadt und auch der wenig urbane Charakter des Viertels zunehmend in Frage gestellt wurde. Dank der Studentenbewegungen der 1970er Jahre wurde die Sicht auf das Hansaviertel revolutioniert: Die Wohnungen in Mietskasernen waren im Vergleich häufig günstiger, denn die Baukosten für das Hansaviertel waren überdurchschnittlich hoch und die daraus resultierenden Mieten ließen es zu einem exklusiven Wohngebiet werden.2

Im Hinblick auf den demographischen Wandel in Deutschland lassen sich auch noch weitere Problematiken im Hansaviertel ausmachen: Während einige der Hochhäuser barrierefrei sind, sind es die meisten anderen Gebäude nicht. Teilweise befinden sich die zwar vorhandenen Aufzüge auf Zwischengeschossen4, sodass keine Wohnung direkt von diesen aus erreichbar ist. Auch die damals so modernen Maisonettewohnungen können unter diesem Gesichtspunkt zum Hindernis für die alternden Bewohner*innen werden.

Das Hansaviertel verfügt aber über eine bleibende Attraktivität: Es gibt niedrige Leerstandsquoten und die Nachfrage nach Miet- und Eigentumswohnungen ist bleibend hoch.8 Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass viele der Bewohner*innen dort seit der Errichtung des Viertels wohnen und damals voller Überzeugung von den Idealen, die im Hansaviertel verwirklicht wurden, eingezogen sind. Dass diese Überzeugung noch immer vorhanden ist, zeigt sich nicht zuletzt in dem hohen Engagement der Bewohner*innen und Besitzer*innen bei der Erhaltung des Viertels.8 Neben der Umwandlung vieler Miet- in Eigentumswohnungen in den 1980er Jahren hat bisher nur bedingt ein Generationenwechsel stattgefunden. Es bleibt zu beobachten, wie eine neue Bewohner*innengeneration das Hansaviertel zukünftig bewerten wird.

Verkehr und Infrastruktur

Im Rahmen der Interbau 1957 wurde das Gebiet südlich des Tiergartens auch infrastrukturell neu geordnet. Dies war Teil einer neuen Verkehrsgesamtplanung für West- (und auch Ost-)Berlin. Im April 1956 wurde mit dem Bau eines innerstädtischen Schnellstraßennetzes begonnen, das bei seiner Fertigstellung etwa 100 km umfassen sollte.4 Die größten Verkehrsströme wurden auf neuen Schnellstraßen und die nächstgrößeren auf Hauptverkehrsstraßen gebündelt. Das Stadtzentrum wurde von neuen Fernverkehrsstraßen umgeben, die als Tangenten um die Innenstadt herumgeführt wurden. Diese Verkehrsplanung basierte nicht nur auf infrastrukturellen, sondern auch auf städtebaulichen Überlegungen. Zwischen den Hauptverkehrsstraßen sollten nach dem Willen der Stadtplaner*innen vom Durchgangsverkehr befreite, beruhigte Zonen geschaffen werden,4 in denen Bewegung unabhängig und ungestört vom Verkehr möglich war. Die neuen Verkehrswege waren somit das Grundgerüst für die städtebauliche Planung des neuen Berlins. Zusätzlich zum Straßenverkehrsnetz wurde ein großflächiger Ausbau des U-Bahn-Netzes geplant, der die Straßen zusätzlich entlasten und neue Gebiete erschließen sollte.4 Dazu gehörte auch das Hansaviertel, das von einer neuen Untergrundbahnlinie von Steglitz nach Wedding gekreuzt wurde.

Vor der Neugestaltung gab es im Hansaviertel vor allem die für Berlin typischen, gleich breiten Straßen, die sich alle im zentralen Hansaplatz schnitten. Das führte zu einer gleichmäßigen Anfüllung aller Straßen des Gebietes mit Verkehr, was zu ungünstigen und gefährlichen Verkehrssituationen führen konnte.4 Im Rahmen der Neuplanung wurden einige der Straßen, wie die Händelallee, verschmälert, andere wurden zu reinen Wohnstraßen umfunktioniert. Nochmals andere wurden teilweise oder ganz aufgehoben. Der Großteil des Verkehrs wurde auf der Straße des 17. Juni, eine der bedeutendsten Stadtachsen Berlins, am südlichen Rand am Hansaviertel vorbeigeführt.4 Gleichermaßen sollte der Nord-Süd-Verkehr auf einer Hauptverkehrsstraße westlich der Stadtbahn am Hansaviertel vorbeigelenkt werden. Durch diese Neuordnung blieb lediglich eine größere Verkehrsstraße, die Altonaer Straße, im Hansaviertel bestehen. Diese teilt das neue Hansaviertel in zwei ruhige, vom Verkehr weitestgehend ungestörte Wohngebiete, die aufgrund der lockeren Anordnung ihrer Baukörper dennoch als städtebauliche Einheit wahrgenommen werden sollten.4

Doch durch die Staffelung der Straßen und den Status der Altonaer Straße, als größere Verkehrsstraße hat diese immerhin zwei Fahrbahnen von jeweils 9 Meter Breite sowie einen Mittelstreifen. Inwiefern eine derartig breite Straße zum einen die Wohngebiete auf beiden Seiten zusammenbinden kann und zum anderen ungestörtes Wohnen in der Nähe der Straße gewährleistet, ist fraglich. Die Wohnstraßen sind hingegen nur etwa 6-7 Meter breit und gepflastert.4 Sie verkörpern mit nahtlos in die Grünflächen übergehenden Bürgersteigen mehr das Bild der ruhigen Wohnsiedlung.

Übergeordnetes Schnellstraßennetz Berlin
Straßennetz Hansaviertel
Altonaer Straße
Händelallee

Öffentlicher Raum

An der Planung des Hansaviertels waren zehn bekannte Landschaftsarchitekt*innen beteiligt, die unter der Leitung von Walter Rossow zusammen mit den Architekt*innen eine Grünplanung für das Hansaviertel entwickelten. Die Landschaftsplanung übernimmt im Hansaviertel eine integrale Rolle: Erst sie bindet die Solitärbauten in einen zusammenhängenden Grün- und Landschaftsraum zusammen und erfüllt gleichzeitig das Leitmotiv vom „Menschen in der grünen Großstadt“1, das durch die Planer*innen ausgerufen wurde.

Die Idee der fließenden Grünräume war ein Leitbild der Architektur und der Landschaftsarchitektur der 1950er Jahre.1 Diese finden sich auch in der Planung des Hansaviertels wieder. Das grundlegende Konzept der Grünplanung war, das Hansaviertel und den angrenzenden Tiergarten miteinander zu verbinden. Die baumbestandene Parkwiese des Tiergartens sollte in das Viertel hineinfließen, sich durch die Bebauung in den Spazierwegen fortsetzen und dadurch erweitert werden.1

Die Grünflächen sind stark differenziert und lassen sich in Schmuck-, Spiel- und Erholungsbereiche unterteilen.1 Diese Differenzierung lässt sich weitestgehend auf die drei Bautypen zurückführen.  An den Hochhäusern befinden sich meist parkähnliche Grünflächen, die öffentlich zugänglich sind und der Gemeinschaft zur Verfügung stehen. Die Freiräume sind locker und transparent bepflanzt und eröffnen dadurch immer wieder Blickbeziehungen zum Tiergarten, auch teilweise durch die offenen Erdgeschosse hindurch.  Das Leitmotiv der ineinanderfließenden Räume wird auch in Details wiederaufgegriffen, wie im Ineinandergreifen der vielfältig gestalteten Wege und Bürgersteige mit den angrenzenden Beet- und Rasenflächen.8

Neben einer abwechslungsreichen Gestaltung der Rasenflächen wurde ein besonderer Fokus auf ruhige, abgeschirmte Wohnbereiche im Bereich der Einfamilienhäuser gelegt. Deren Gärten sind nach außen vollständig abgeschirmt, dadurch vollkommen privat und als Erweiterung des Wohnraums gestaltet.1 Hier ist auch das einzige Indiz einer individuellen Gestaltung des Außenraums zu finden, der in direktem Bezug zu den Konzepten des Innenraums steht. Während im Innenraum laut Deklaration der Planer*innen klar das Individuum im Vordergrund stand, was sich in den vielfältigen Grundrissen und Planungen widerspiegelt, steht im Außenraum die Gesellschaft als Ganze im Vordergrund. Die Flächen sind zwar durchaus vielfältig gestaltet, was sich in unterschiedlichen Materialien, Pflanzarrangements und Kunst im Außenraum widerspiegelt, doch Räume zur wirklich individuellen Nutzung abseits der großen Rasenflächen lassen sich weniger finden. Die Idee des Individualismus findet somit ihr Ende an den Grenzen von Innen- zu Außenraum.

Teppichsiedlung ©Viktoria Richert
Händelallee ©Viktoria Richert
Altonaer Straße ©Viktoria Richert

Programme und Nutzungen

Alle Gebäude des Hansaviertels zeichnen sich durch eine unterschiedliche Gestaltung aus, was auch durch die vorgeschriebene Wirtschaftlichkeit am Bau nicht beeinträchtigt wurde.8 Diese Individualität findet man nicht nur in der Fassade, sondern auch in der Grundrissgestaltung wieder. Selten beschränkt sich ein Gebäude im Hansaviertel auf wenige Wohnungstypen. Vielmehr herrschte eine große Vielfalt an Wohngrundrissen vor, die durch die Bewohner*innen auch noch weiter individualisiert werden konnten. Durch den Einsatz nicht tragender Trennwände war häufig eine einfache, flexible Veränderung der Wohnungen möglich. Im durch die Konstruktion vorgegebenen Rahmen sollte es eine größtmögliche Freiheit und Abwechslung geben.4 Komplementär zu den individuellen Wohnungsgrundrissen wurden auch zahlreiche Gemeinschaftsflächen in den Gebäuden vorgesehen. Diese Flächen dienen genau wie die Außenräume als Begegnungsflächen für die Bewohner*innen und zeigen, dass das Individuum immer als Teil der Gesellschaft beachtet werden sollte.

Eine derartige Nutzungsmischung findet man im siebengeschossigen Wohngebäude Oscar Niemeyers nördlich der Altonaer Straße. In einem freien Erdgeschoss wird der Grünraum durch das Gebäude hindurchgeführt, darüber befinden sich Wohnungen in Schottenbauweise. Im fünften Geschoss befindet sich die Gemeinschaftsfläche mit verschiedensten Kontakt- und Erholungsmöglichkeiten für die Bewohner*innen. Gleichzeitig übernimmt diese Etage eine Verteilerfunktion.4

Für Deutschland gänzlich neue Ideen zeigte Alvar Aalto in seinen offenen, skandinavischen „Allräumen“. Dabei handelt es sich um einen offenen und nutzungsneutralen Raum im Zentrum der Wohnung, um den sich Küche, Essplatz, Schlafzimmer und Bad gruppieren.2 Das von ihm entworfene achtgeschossige Wohngebäude befindet sich südwestlich des Hansaplatzes zwischen Klopstockstraße und Bücherei. Durch die, an das Wohnzimmer direkt angrenzende Loggia wird der Freiraum unmittelbar mit dem Wohnraum verbunden. Dieser Grundriss bietet Platz sowohl für gemeinschaftliche Aktivitäten als auch Rückzugsmöglichkeiten und wurde für den modernen „demokratischen“ Familientyp1 entworfen, in dem jedes Individuum selbst entscheiden kann, wie es seine Zeit verbringen möchte.

Andere individuelle Entwurfsgedanken lassen sich in den Einfamilienhäusern von Sergius Ruegenberg und Wolf von Möllendorff finden. Ihr Entwurf orientiert sich an Bewegungs- und Funktionsabläufen, an Himmelsrichtungen und am Lauf der Sonne. Zu Beginn des Tages im Osten wachen dort die Schlafenden auf, duschen und frühstücken. Die Arbeitsplätze befinden sich dann im kühlen Schatten. Nachmittags werden Küche, Wohnraum und Elternstudio beleuchtet. Durch ein erhöhtes Dach wurde dort die Überlagerung von Außen- und Innenraum begünstigt.1

Gemeinschaftsfläche von Oscar Niemeyer
Achtgeschosser von Alvar Aalto
Einfamilienhaus von Ruegenberg/von Möllendorff

Interbau 1957 und die Karl-Marx-Allee

Im ideologischen Kampf der beiden Systeme wollten Ost- und Westdeutschland ihre jeweilige Überlegenheit auch auf dem Gebiet des Städte- und Wohnungsbaus beweisen.2 Bis 1950 gab es einheitliche Entwicklung des Städtebaus, in beiden Teilen von Berlin war man sich einig in der Abkehr von der steinernen Stadt. Den Ausschlag zur Trennung erfolgte in der Verfassung der „Sechzehn Grundsätze zum Städtebau“ in der DDR.1 1953, mit dem Bau der Karl-Marx-Allee in Ost-Berlin, entwickelte man sich dort in eine gänzlich andere Richtung. Diese sollte mit monumentaler Achse und historisierenden Fassaden das, aus Sicht des Ostens, bessere Gesellschaftssystem des Sozialismus vorführen.6 Die Ostberliner Entwicklungen trafen auch in der westlichen Bevölkerung auf Anklang.2 Umso dringlicher erschien es westlichen Politiker*innen, selbst ein Symbol der westlichen Demokratie zu errichten.

Diese sollte ein prominentes Beispiel für modernen Städtebau und „anständigen“ Wohnungsbau werden und gleichzeitig ein „klares Bekenntnis zur westlichen Welt“ setzen.6 Im Hansaviertel sollte gezeigt werden, welche Vorzüge die Demokratie für die Stadtentwicklung bringt: Freiheit im Bauen, Vielfalt in der städtebaulichen Form, in den Entwürfen und in den Typologien und Offenheit des fließenden Raumes.1 Die Idee gesellschaftlicher Pluralität sollte der in der Karl-Marx-Allee gehuldigten Idee des Kollektivs entgegengestellt werden. Man wollte dieser eine Zwanglosigkeit im Bauen gegenüberstellen, die sich durch, aus der Grundstruktur ausbrechende und in Grünräume eingebundene Gebäude und durch höchst variable und individuelle Grundrisse, auszeichnete.6

Die Interbau 1957 war ein großer Erfolg und stieß auf eine zutiefst positive Rezeption in In- und Ausland. Von den etwa einer Million Besucher*innen der Interbau kamen sogar 345.000 aus Ostberlin.1 Im heutigen Kontext können städtebauliche Großprojekte wie das Hansaviertel durchaus kritisch gesehen werden. Vorstellungen wie die Funktionentrennung werden heute nach anderen Gesichtspunkten bewertet: Die Anforderungen, die durch die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts an die Stadt entstehen, haben sich geändert und sind auch nicht homogen. Geschichtliche Gegebenheiten, die zur Verfassung der Charta von Athen geführt haben, sind so heute nicht mehr vorhanden. Vielmehr steht heute die nachhaltige Stadtentwicklung im Fokus. So würde die vollständige Tilgung eines ganzen Stadtviertels wie des alten Hansaviertels, auch wenn es teilweise zerstört wäre, so heute wohl nicht mehr stattfinden und die Errichtung eines gänzlich neuen Stadtgebiets wohl auf Kritik stoßen. Die Errichtung des Hansaviertels war weniger ein Wiederaufbau, sondern mehr ein vollständiger Neubau, und somit auch nur bedingt auf den Wiederaufbau im restlichen Nachkriegsdeutschland anwendbar.

Ansicht Oscar-Niemeyer-Haus, Altonaer Straße
Ansicht Karl-Marx-Allee
 

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Autor*innen

  • Anna Pauline Proske (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Sommersemester 2022)
  • Viktoria Richert (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Sommersemester 2022)

Quellen

  1. Schulz, Stefanie / Schulz, Carl-Georg: Das Hansaviertel: Ikone der Moderne, Berlin 2007
  2. Haspel, Jörg / Flierl, Thomas (Hg.): Karl-Marx-Allee und Interbau 1957: Konfrontation, Konkurrenz und Koevolution der Moderne in Berlin, Berlin 2017
  3. Leipzig Charta zur nachhaltigen Stadt. https://www.leipzig.de/bauen-und-wohnen/stadtentwicklung/stadtentwicklungskonzept-insek/umsetzung-und-weiterentwicklung/leipzig-charta, 05.08.2022
  4. Weitz, Ewald / Friedenberg, Jürgen: Interbau Berlin 1957: Internationale Bauausstellung im Berliner Hansaviertel, 6. Juli bis 29. September, Berlin 1957
  5. Weser-Kurier. Als die Neue Vahr ganz neu war. https://www.weser-kurier.de/bremen/als-die-neue-vahr-ganz-neu-war-doc7e4491kjodstxnfy7gt, 30.07.2022
  6. Krau, Ingrid / Rainer, Vallentin: Das Hansaviertel: Denkmal – energetische Herausforderungen – kleinteiliges Wohnungseigentum in großen Häusern, München 2012
  7. Hansaviertel Berlin. Auf dem Weg zum Weltkulturerbe. https://hansaviertel.berlin/unesco/weltkulturerbe/, 30.07.2022
  8. Landesdenkmalamt Berlin, (Hg.): Das Hansaviertel in Berlin: Bedeutung, Rezeption, Sanierung, Petersberg 2007
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