Inspiriert von dem monumentalen Haussmann-Stil in Paris, entwarf Hendrik Petrus Berlage im 20. Jahrhundert die Stadtexpansion für Amsterdam Süd. Durch die Verbindung von Straße, Platz und Stadtteil mit den Bauten in größerem Maßstab, schuf er eine architektonische Einheit. Eine „Schönheitskommission“ trug zur Gestaltung des Viertels bei und Berlages rationaler „Masterplan“ wurde durch den expressionistischen Stil der Amsterdamer Schule ergänzt.

Geschichte

Ende des 19. Jahrhunderts florierte die Stadt Amsterdam als Handels- und Dienstleistungszentrum im Zuge der Industrialisierung. Die Bevölkerungszahl verdoppelte sich von 1870 bis 1900 von 255.000 auf 511.000, wodurch Amsterdam zu einer der am dichtesten besiedelten Regionen Europas wurde. Dies brachte vor allem in den Arbeitervierteln skandalöse Wohnverhältnisse mit sich, was Ende des 19. Jahrhunderts hektische Bautätigkeiten auslöste. Allerdings wurde hierbei primär auf das Schaffen von Wohnraum und weniger auf die Bauqualität geachtet. Besonders die, in dem von Wasserstraßen geprägten Amsterdam, erforderlichen Pfahlgründungen wurden vernachlässigt, was beispielsweise Absenkungen der Häuser zur Folge hat. 
1901 wurde das staatliche Wohnungsbaugesetz verabschiedet, das räumliche und hygienische Mindestanforderungen an den Wohnraum vorschrieb.1
Außerdem legte es fest, dass jede niederländische Gemeinde, die mehr als 10.000 Einwohner*innen zählt oder einen starken Bevölkerungswachstum aufweist, einen Expansionsplan aufstellen muss.2 Aufgrund dessen beauftragte die Stadt Amsterdam 1899 Hendrik Petrus Berlage damit, einen Entwurf für eine kontrollierte Stadtexpansion für Amsterdam Süd zu entwickeln, der auch das Stadtviertel Rivierenbuurt einschließt. Berlages Expansionsplan geriet jedoch stark in Kritik. Fragwürdige Punkte, wie der hohe Anteil an Grünflächen, die unzureichende Verdichtung von Wohnraum und der malerische, mittelalterliche Charakter der Straßenzüge, der dem Zeitgeist nicht mehr entsprach, wurden abgelehnt.3 Nach einer Überarbeitung des Plans in Bezug auf diesen Kritikpunkt wurde der zweite Plan Süd 1917 von der Stadt genehmigt.1

Verortung
H. P. Berlage

Regelwerke

Inspiriert durch den monumentalen Haussmann-Stil in Paris, entwickelte Berlage die Struktur des Expansionsplans für Amsterdam Süd: schmale, geradlinige Straßen mit langgestreckten Gebäuden wurden von breiten Hauptachsen durchschnitten. Um eine architektonische Einheit aus Straße, Platz und Stadtteil zu bilden, waren laut Berlage Bauten im größeren Maßstab notwendig.3

Die den Stadtraum in Rivierenbuurt gliedernde Blockrandstruktur besteht hauptsächlich aus drei- bis viergeschossigen Wohngebäuden.4 Die Verwendung von Ziegelsteinen an der Fassade ist an dieser Stelle charakterbildend und schafft ein einheitliches Gesamtbild.1 Um diese Einheit zu stärken, wurden die Architekten*innen damit beauftragt, die Fassade mehrerer zusammenhängender Flurstücke zu entwerfen, jedoch nicht einen gesamten Block.4 So gelang es, eine Regelmäßigkeit in Traufhöhen, Fensterabständen und Mauerwerksformen auszubilden, die durch geringfügige Veränderungen Abwechslung und Identität schafft. Auch bezüglich Größe und Ausstattung der Wohngebäude wurden Festlegungen getroffen, sodass drei verschiedene Wohnungstypen für die jeweiligen Einkommensklassen der Gesellschaft entstanden.5 Dabei wurden 9% der Wohngebäude als Villen für die hohe Einkommensklasse konzipiert, 14% der Bebauung als Maisonette-Wohnungen dem Mittelstand zugeschrieben und 77% als sogenannte „Volkswohnungen“ für die Arbeiterklasse.46 In den meisten Wohnungen findet dabei ein Durchwohnen statt, was sich mit der geringen Bautiefe der Blockränder in Verbindung bringen lässt.4 Durch Berlages fortschrittliche Denkweise bezüglich des sozialen Wohnungsbaus gilt der Plan Süd international als einer der wichtigsten Stadtentwicklungspläne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.6

Entwicklung

Während der Bebauungsphase des Gebiets Rivierenbuurt galt Berlages Masterplan nicht als festgesetztes Regelwerk, sondern als Planungsgrundlage. Situationsabhängige Veränderungen und Ergänzungen prägen das Erscheinungsbild des Viertels.4 Dennoch sind über die Realisierungsdauer von über 50 Jahren drei Bebauungsphasen ablesbar.7 Die erste Phase begann 1923 im Nordosten Rivierenbuurts. 1930 folgte die zweite Phase im Westen des Gebietes, bis 1935 schließlich der südliche Teil des Viertels bebaut wurde. Danach wurden an einigen Stellen des Gebiets vereinzelte Ergänzungen vorgenommen, wobei die Grundstruktur bis heute größtenteils erhalten geblieben ist.8

Die 1898 gegründete „Schönheitskommission“ trug während der Entwicklungsphase im Wesentlichen zur Gestaltung des Viertels bei.3 Erst durch den Beitritt von Architekten der Amsterdamer Schule 1915 erlangte die anfangs noch machtlose Institution einen hohen Einfluss.9 Die Amsterdamer Schule, die als Reaktion auf Berlages Rationalismus gegründet worden ist, stellte mit ausdrucksstarken und einfallsreichen Formen den Bezug zum Expressionismus her.3 Da ihre Blütezeit von zwölf Jahren auf die Anfänge des 20. Jahrhunderts fällt, macht sich ihr Stil in Rivierenbuurt lediglich in der ersten Bebauungsphase bemerkbar.10 Vor allem die am zentralen Zugangsboulevard „Amstellaan“ liegenden Gebäude sind von der Handschrift der Hauptvertreter der Amsterdamer Schule Michel de Klerk und Piet Kramer geprägt.4 Nach dem Tod de Klerks 1923 nahm der Einfluss der Amsterdamer Schule deutlich ab, wodurch Berlages Rationalismus dem Großteil des Gebiets Ausdruck verleiht.10

Zugangsboulevard
Bebauungsphasen

Verkehr und Infrastruktur

Das Stadtviertel Rivierenbuurt wird von der Eisenbahnstrecke sowie der Autobahn im Süden und von Wasserstraßen in den anderen Himmelsrichtungen eingerahmt. Wie in Berlages Plan vorgesehen, verläuft in Ost-West-Richtung die 60 m breite Hauptverkehrsader, die sich Y-förmig in zwei Straßen unterteilt. Sie ist prägend für die charakteristische Form des Gebiets. Von Norden nach Süden verlaufen 25 bis 30 m breite Quartierstraßen, die den Verkehr ausgehend von den Brücken durch das Gebiet leiten. Die 12 bis 15 m breiten Wohnstraßen richten sich am Verlauf der Hauptstraßen aus und bilden oftmals Einbahnstraßen mit schmalen Querschnitten.11

Das für Amsterdam typische Fortbewegungsmittel, das Fahrrad, erhält auf den Hauptverkehrsachsen durch gesonderte Fahrspuren seinen Raum im Straßenverkehr. Auf den schmalen Nebenstraßen gelten hingegen gleichberechtigte Fahrbahnen für Auto- und Fahrradfahrer. Neben dem Bahn-, Auto- und Fahrradverkehr ist Rivierenbuurt an das Amsterdamer Bus- und Straßenbahnnetz angeschlossen, deren Stationen entlang der Hauptverkehrsachsen angelegt sind.

Hauptverkehrsader
Wohnstraße
Quartiersstraße
Straßenhierarchie

Öffentlicher Raum

Anhand verschiedener Freiraumstrukturen lassen sich innerhalb Rivierenbuurts verschiedene Grade der Öffentlichkeit ablesen. Die Villen im Westen und Süden des Gebiets sind von ihren individuell gestalteten Privatgärten umgeben. Die prägenden Blockrand- sowie die südlich gelegenen Zeilenbauten, bilden gemeinschaftliche Innenhöfe aus. Die Hofstrukturen der Blockränder sind für Außenstehende weder sichtbar noch zugänglich, während die der Zeilenbauten durch Tore hindurch für Passierende einsehbar sind. Die Innenhöfe sind geprägt durch Begrünungen und Hinterhofgebäude. Die halböffentlichen Freiräume im Straßenraum, wie beispielsweise der Friedhof oder das Schwimmbad im südlichen Rivierenbuurt, sind durch zeitliche oder nutzerspezifische Beschränkungen nicht ganztägig zugänglich. Öffentliche Plätze und Parkanlagen, wie der Beatrixpark im Westen und der Martin- Luther-King-Park im Osten, stehen der Bevölkerung jeder Zeit zur Verfügung und zeichnen sich durch befestigte Spazierwege aus. Innerhalb des Straßenraums sind ebenfalls Baumreihen sowie Grünstreifen entlang der Straßenränder angeordnet, so dass Rivierenbuurt im Gesamtbild als grüner Stadtraum wahrnehmbar ist.

Halbprivate Innenhöfe & öffentliche Plätze

Programme

In Rivierenbuurt sind hauptsächlich Wohngebäude vorzufinden. Neben den Wohnstrukturen sah Berlage nur vereinzelt öffentliche Bausteine wie ein Krankenhaus, verschiedene Schulen, eine Universität, ein Schwimmbad sowie religiöse Institutionen und Polizeistationen für Amsterdam Süd vor.3 Lediglich an Platzsituationen oder in vereinzelt vorkommenden Einkaufsstraßen auf den Nord-Süd-Achsen finden sich kommerzielle Nutzungen im Erdgeschoss wieder. Diese unterscheiden sich deutlich von den für das Wohnen vorgesehenen Erdgeschossen. Während die breiten Fensterflächen der öffentlichen Gebäudeteile die Kommunikation zwischen Innen- und Außenraum bewusst zulassen, schaffen die Fensterfassaden der Wohngebäude durch ihre Rasterung nur vereinzelte Blickbezüge. Dennoch wird die Fassade und der Bezug zum Innenraum für Passierende erlebbar, da es in diesen Bereichen keine Form einer Vorzone gibt. Privatsphäre für die Bewohner kann lediglich durch Vorhänge an den Fenstern geschaffen werden.
Eine weitere kommunikative Schnittstelle bilden die Haustüren der Wohnungen. Da für jede Wohnung eine eigene Haustür vorgesehen ist, entstehen im Straßenraum Situationen, in denen bis zu sechs Türen nebeneinander gereiht sind. Auch die darüberliegenden Geschosse weisen mit einer steilen Treppe, die vom Straßenraum in das erste Obergeschoss führt, ihre individuelle Erschließung auf. Durch vorgelagerte Treppenpodeste entstehen an einigen Stellen kleine Vorzonen, die einen Abstand zwischen dem Straßenraum und der Fassade erzeugen. Auch hier finden ab dem ersten Obergeschoss individuelle Eingangssituationen und Erschließungen für alle Einheiten statt.

Ebenerdige Eingangssituation
Gemeinschaftliche Treppenerschließung
Erschließungsräume
 

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Autor*innen

  • Maya Eberle (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Wintersemester 2019)
  • Gesa Henning (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Wintersemester 2019)
  • Neele Feil (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Wintersemester 2019)

Quellen

  1. Bodenschatz, Harald et al.: „Schluß mit der Zerstörung? Stadterneuerung und städtische Opposition in West-Berlin, Amsterdam und London“. In: Werkbund-Archiv, 11/ 1983, S. 113-147, 1983
  2. Jobst, Gerhard: Kleinwohnungsbau in Holland, Berlin 1922
  3. Koorn, Ingrid: Geheugen van Plan Zuid. PLAN ZUID: van kronkelstraatjes tot Parijse allure. https://www.geheugenvanplanzuid.nl/index.php/architectuur/564-plan-zuid-van-kronkelstraatjes-tot-parijse-allure, 05.06.2014
  4. Kohlenbach, Bernhard: Pieter Lodewijk Kramer. Architekt der Amsterdamer Schule, Naarden 1994
  5. Jolles, Allard et al.: Planning Amsterdam. Scenarios for urban development, S. 46, Rotterdam 2003
  6. Groenendijk, Paul / Vollaard, Piet: Architecture guide. URBAN DESIGN AMSTERDAM-ZUID. http://www.architectureguide.nl/project/list_projects_of_architect/arc_id/457/prj_id/361, 13.02.2020
  7. de Jong, Lukas: Architecten van de Rivierenbuurt Amsterdam, Amsterdamse School. Lukas de Jong plus. http://lukasdejongplus.nl/rivierenbuurt/rivierenbuurt.html, 07.06.2014
  8. Geheugen van Plan Zuid, Stiftung: Geheugen van Plan Zuid. RIVIERENBUURT: de geschiedenis van de Rivierenbuurt. http://www.geheugenvanplanzuid.nl/index.php/architectuur/478-rivierenbuurt-de-geschiedenis-van-de-rivierenbuurt, 05.06.2014
  9. Lüchinger, Arnulf / Joedicke, Jürgen: „Rückblende im Wohnungsbau: die Schule von Amsterdam = L'École d'Amsterdam = Amsterdam school“. In: Bauen + Wohnen = Construction + habitation = Building + home: internationale Zeitschrift, 29/1975, S. 358, 1975
  10. Hoekstra, Maarten Jan: Het Plan Zuid in woorden. Veranderende stedebouwkundige begrippen en een onbekende plankaart, Delft 01.12.2012
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