In einem der ungewöhnlichsten Orte der Welt leben und arbeiten bis zu einer Million Menschen auf engstem Raum. Dharavi hat eine der höchsten Bevölkerungsdichten der Welt und gehört zu den größten informellen Siedlungen. Geprägt durch eine komplexe, organisch gewachsene Struktur und inkrementell entwickelten Haustypologien, sind hier sichtbare und unsichtbarer Netzwerke gesponnen, die das Überleben sichern.

Geschichte

Dharavi zählt heute zu einer der größten informellen Siedlungen weltweit. Ursprünglich war die Fläche südlich des Mahim Creek ein Sumpfgebiet außerhalb der Stadtgrenzen und wurde partiell als Müllkippe genutzt.1 Als altes Fischereidorf entwickelte sich Dharavi schon seit dem frühen 19. Jahrhundert.2 Nachdem um 1887 die erste industrielle Gerberei und eine Moschee gegründet wurden, legten neue Siedler*innen das Land durch die Ablagerung von Abfällen der Stadt sukzessive trocken.1 Mumbai wuchs zu Beginn des 20. Jahrhunderts enorm, die Textilindustrie boomte.4 Im Zuge der Expansion der Stadt kamen zahlreiche Landflüchtige mit der Aussicht auf Erwerbsmöglichkeiten und Wohnraum nach Dharavi.2 Zusätzlich wirkten bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen im Verlauf der Teilung des indischen Subkontinents um 1948 als Katalysator informeller Urbanisierungen.3 Die Bevölkerung Mumbais innerhalb des Stadtgebiets hat sich zwischen 1950 und 2011 von drei Millionen auf 12,5 Millionen Einwohner*innen vervierfacht.2 Heute liegt Dharavi im topografischen Herzen der Metropole und ist auch ökonomisch von besonderer Bedeutung für die Stadt.1

Verortung
Mumbai 1950
Mumbai 1957
Mumbai 1965

Strukturelle Merkmale

Dharavi ist baulich durch eine komplexe, organisch gewachsene Struktur geprägt. Die Bebauungsdichte liegt in diesem Teil der Stadt bei etwa 75 %. Auf einer Fläche von ungefähr 2 km² leben schätzungsweise zwischen 600.000 und eine Million Menschen - überwiegend in zwei- bis zweieinhalb geschossigen Hütten aus verschiedenen Materialien wie Lehm, Wellblech, Bambus, Holz, Ziegeln, Steinen, Tüchern und Zement.2 Übergeordnet ist das gesamte Stadtgefüge in sieben Bereiche gegliedert, welche sich durch ihre programmatischen Strukturen definieren. Neben den informellen Bauten finden sich hier auch institutionelle Gebäude wie Schulen und Polizeistationen.4

Strukturelle Übersicht Dharavi

Alle Gebäude Dharavis sind straßenständig orientiert; die Erschließung der Obergeschosse erfolgt zumeist über Leitern aus dem öffentlichen Raum. In der Regel entspricht die Parzellengröße der Gebäudegrundfläche, sodass kein privater Freiraum vorhanden ist. Durchschnittlich leben in Dharavi 6,2 Menschen in einem Haushalt auf etwa 12,5 m² Wohnfläche.5 Im Laufe der Zeit haben sich verschiedene Haustypologien herausgebildet, welche sich hauptsächlich in ihrer strukturellen Beziehung zwischen Wohnen (weiß dargestellt) und Arbeiten (schwarz dargestellt) voneinander unterscheiden.

Wohnen + Arbeiten | Arbeiten | Lager
Wohnen 1 + Arbeiten | Wohnen 2
Arbeiten |                 Wohnen

Entwicklung

Ab 1970 begannen sich einige Einwohner*innen Dharavis in Aktionskomitees und Selbstvertretungsorganen zu organisieren, um verstärkt für die Verbesserung der Lebenssituationen einzutreten. Eine wichtige Rolle im Prozess spielten auch diverse NGOs und Menschenrechtsorganisationen.

Um 1983 gewährte die Regierung den Bewohner*innen der Kerngebiete Dharavis gegen geringe monatliche Zahlungen das Wohn- und Nutzungsrecht. So leben heute etwa ein Drittel der Einwohner*innen, nämlich die damals schon ansässigen Familien und deren Nachkommen, legal in Dharavi.1 In Folge der rechtlichen Stabilisierung wurden provisorische Behausungen durch dauerhafte Konstruktionen ersetzt.5 Der stetige Druck auf Dharavi, als einer der wenigen niedrigpreisigen Wohnorte im Zentrum Mumbais, sorgte frühzeitig für die endgültige Ausschöpfung der Fläche, sodass heute keine weitere Neubebauung möglich ist. Ein neues Haus darf nur dann errichtet werden, wenn ein anderes dafür abgerissen wird. Eine entsprechende Kontrolle erfolgt in den sogenannten Nagars, einem komplexen Nachbarschaftsgefüge, das sich über die Zeit entwickelt hat.4

Infrastruktur

Heute liegt Dharavi im Zentrum Mumbais, in direkter Nähe zu bedeutenden Stadtbausteinen, wie dem  Flughafen oder dem Wirtschaftsviertel Bandra Kurla, und wird durch die wichtigsten Verkehrsadern der Stadt begrenzt.7

Wegenetz

Der Zugang zum Gebiet erfolgt primär über zahlreiche Brücken, die das Gebiet über die angrenzenden Gleisanlagen hinweg mit dem Rest der Stadt verbinden. Innerhalb des Gebietes besteht ein komplexes Wegenetz, das sich durch immer feingliedriger werdende Straßen und Gassen auszeichnet. Durch die vorhandene Hierarchisierung der Straßen entstehen unterschiedliche Grade an Öffentlichkeit und Privatheit. 

Lange Zeit fehlte jegliche moderne städtische Infrastruktur. Inzwischen liegen nahezu im gesamten Gebiet Wasserleitungen sowie Strom- und Telefonkabel. Allerdings haben die Haushalte nach wie vor täglich nur für zwei bis drei Stunden Zugang zu fließendem Wasser. Von der Stadt errichtete Gemeinschaftstoiletten sind in einem schlechten hygienischen Zustand und in unzureichender Anzahl vorhanden. So teilen sich etwa 100 Einwohner*innen eine einzige Toilette.5

Flur |  Zugang, Durchgang, Aufgang
Residential Street | Aufenthalt, Lager, Durchgang, Zugang
Market Street | Handel, Aufenthalt, Verteiler, Zugang

Öffentlicher Raum

Freiräume im Töpferviertel Kumbharwarda (grau: Brennöfen)

Aufgrund der enormen baulichen Auslastung bleibt nahezu kein Platz für Freiflächen mit natürlicher Vegetation. Freiflächen bilden sich in der Regel lediglich durch Aufweitungen der Straßenräume. Das Hauptkriterium für funktionierende Freiräume in Dharavi ist vielmehr eine maximale Multifunktionalität. Die Flächen erfüllen in erster Linie einen funktionalen Nutzen und dienen als Erschließungen, als Betriebs- und Lagerflächen für gewerbliche Arbeiten oder als gemeinsame sanitäre Einrichtungen. Gleichzeitig bietet jede Freifläche aber auch Raum für diverse soziale Funktionen. Die Färbebecken der Textilarbeiter*innen dienen zugleich als Spielplatz für Kinder; die Straßen dienen als Kommunikationsraum und als Erweiterung des privaten Wohnhauses.

Öffentliche Räume im eigentlichen Sinne entstehen ausschließlich im Umfeld von gemeinschaftlich genutzten Stadtbausteinen, wie beispielsweise SchulenGotteshäusern oder dem Krankenhaus.

Um überhaupt einen Zugang zu größeren, zusammenhängenden Freiräumen zu erhalten, eignen sich die Bewohner*innen die umliegenden, teilweise stillgelegten, Gleisanlagen an. Hier wird gespielt, die Wäsche getrocknet und verweilt.8

Sockelzone
Schulhof
Gleisanlagen

Soziale Dimension

Der Vergleich des Stadtteils mit einer großen Wohngemeinschaft lässt die sozialen Zusammenhänge Dharavis gut erkennen: die Straßen dienen als Flure, die sich immer wieder gemeinsamen Wohnbereichen aufweiten; die einzelnen Häuser wirken wie privatere Zimmer, deren Türen aber immer offenstehen. Im alltäglichen Leben ist das Arbeiten und das Wohnen eng miteinander verwebt. Die Verknüpfung der beiden Funktionen ist allgegenwärtig. Die Häuser, in denen tagsüber gearbeitet und nachts geschlafen wird, sind mit den verfügbaren Mitteln individuell gestaltet. Kinderrufe klingen neben Händlerstimmen durch die Straßen und der Geruch von Färbemitteln mischt sich mit diversen Gerüchen der indischen Küche.9

Eine besondere Rolle spielt in Dharavi das tief vernetzte soziale Gefüge. Die Bewohner*innen haben innerhalb ihrer Nachbarschaft, ihres Nagars, ein gemeinschaftliches Umfeld, zu dem sie sich durch ihre Verwandtschaft, ihre Arbeit, ihre soziale Herkunft oder ihre Religion verbunden fühlen. Seit den 1980er-Jahren erhalten die Bewohner*innen Dharavis verstärkt Unterstützung durch diverse NGOs. Mit ihrer Hilfe sind viele soziale Einrichtungen, wie Weiterbildungsstätten, Nachbarschaftszentren, Hilfseinrichtungen oder Krankenstationen, entstanden.6

Nachbarschaftliche Räume

Ökonomische Dimension

Ein besonderes Merkmal des Stadtteils ist dessen hohe Wirtschaftskraft. Jährlich werden hier Umsätze zwischen 300 Millionen und einer Milliarde US-Dollar erwirtschaftet.10 Somit ist der größte Slum Indiens zeitgleich größter Wirtschaftsmotor Mumbais - etwa 70 % der Gesamtproduktion der Stadt wird hier geleistet.5 Dabei werden so viele Arbeitsplätze generiert, dass in Dharavi nahezu keine Arbeitslosigkeit existiert. Rund zwei Drittel der Menschen arbeiten innerhalb des Stadtteils; etwa ein Drittel ist als Dienstleister*innen in den umliegenden Bezirken beschäftigt. Der formale Sektor der Wirtschaft nutzt bewusst die informellen ökonomischen Strukturen Dharavis. So können Mühen und Ressourcen gespart werden, die sonst mit dem Aufbau einer administrativen Infrastruktur verbunden wären.1 Die informellen Kleinstbetriebe, von denen es bis zu 20.000 Stück in Dharavi geben soll, sind durch die Politik offiziell nicht erlaubt, sie werden aber aufgrund ihres Umsatzes und vermutlich diverser Bestechungsgelder geduldet.10

Hauptsächlich werden Leder- und Textilwaren produziert, Töpferprodukte sowie Nahrungsmittel hergestellt oder Müll recycelt. Die Produkte werden entweder in kleinen Shops an den Marktstraßen des Gebietes oder in den umliegenden Stadtteilen verkauft, in Fabriken weiterverarbeitet oder über Zwischenhändler*innen weltweit exportiert.6

Wege der in Dharavi informell produzierten Ware

Politische Dimension

Etwa 60 % des heute wertvollen Baugrundes in Dharavi gehört dem kommunalen Unternehmen „The Brihanmumbai Municipal Corporation“, weitere 15 % der Zentralregierung Indiens, sowie 25 % privaten Eigentümer*innen.7

Inzwischen ist Mumbai eine der bevölkerungsreichsten Metropolen der Welt und die Nachfrage nach Wohnraum ist entsprechend groß.6 Diverse Planungen, Dharavis städtisches Gefüge zu verändern, dominieren seit Anfang des neuen Jahrtausends die politische Agenda Mumbais.4 Im Zuge zahlreicher Slum-Sanierungsvorhaben, die keine Rücksicht auf bestehende informelle Formen der Sozialität und Selbstregierung nehmen, werden die Wohn- und Nutzungsrechte der Einwohner*innen immer wieder infrage gestellt.1 Im Jahr 2004 startete unter anderem das “Dharavi Redevelopment Project” (DRP) als gemeinschaftliches Projekt öffentlicher und privater Institutionen. Zehn Jahre später konnte nicht ein einziges Gebäude fertiggestellt werden. Debatten zum urbanen Wandel Mumbais und die Zukunft Dharavis entwickelten zuletzt eine globale Strahlkraft und trugen das Themenfeld der Transformation von Slums in die Welt.4

 

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Autor*innen

  • Farina Laura Woest (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Wintersemester 2020)
  • Anna-Lena Wallner (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Wintersemester 2020)

Quellen

  1. Fuchs, Martin: „Slum als Projekt - Dharavi zwischen Fremdbestimmung und Selbstregierung“. In: archplus: Indischer Inselurbanismus, 185/2007, S. 77-80, 2007
  2. Taubenböck, Hannes / Kraff, Nicolas J. / Dech, Stefan (Hg.): „Das globale Gesicht urbaner Armut? Siedlungsstrukturen in Slums“. In: Globale Urbanisierung - Perspektiven aus dem All, S. 107-119, Berlin/Heidelberg 2015
  3. Davis, M: „Planet der Slums“. In: archplus: : Indischer Inselurbanismus, 185/2007, S. 70-76, 2007
  4. Kolokotroni, Martha: The politics of Dharavi - On the relationbetween discourse and territorial production, Dissertation an der ETH, Zürich 2015
  5. Stiebitz, A.: Deutschland Rundfunk Kultur. Ein Slum als Lebens- und Arbeitswelt. https://www.deutschlandfunkkultur.de/mumbais-stadtteil-dharavi-ein-slum-als-lebens-und-100.html, 29.03.2017
  6. Schubert, D.: Hafencity Universität. Der größte Slum Asiens: Dharavi, Mumbai -Von Fehlschlägen der „Sanierung“ zum Modellprojekt?. http://www.hcu-hamburg.de/fileadmin/documents/Professoren_und_Mitarbeiter/Dirk_Schubert/JB09-Dharavi.pdf, 25.10.2020
  7. Boano, C / Bolay, J. (Hg.): „Dharavi: Where the Urban Design Episteme is Falling Apart“. In: Learning from the Slums for the Development of Emerging Cities, Springer International Publishing, Lausanne 2016
  8. Boyle, Danny (Regie): Slumdog Millionaire, Indien 2008
  9. Echanove, M. (Hg.): urbz. https://www.urbz.net/people, 23.11.2020
  10. Kauffmann Bossart, M. / Gujer, E. (Hg.): Neue Zürcher Zeitung. Dharavi - ein indischer Slum mit wirtschaftlicher Strahlkraft. https://www.nzz.ch/wirtschaft/dharavi-ein-indischer-slum-mit-wirtschaftlicher-strahlkraft-ld.1536409, 27.02.2020
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