Geschichte
Kadiköy wurde bereits im 7. Jahrhundert v. Chr. von der griechischen Gesamtbevölkerung besiedelt, war damals jedoch noch unter dem Namen Chalzedon bekannt. Der Begriff erschließt sich aus der Bedeutung der damaligen Siedlung, deren Bevölkerung sich vor allem aufgrund der Kupferminen (Chalzedon) dort niederließ, bevor auf der Halbinsel am Goldenen Horn Byzanz gegründet wurde. Im Folgenden gab es immer wieder Regierungs- und Kulturwechsel in Kadiköy: Persische, bithynische, römische, byzantinische, arabische Regierende, Kreuzfahrende und schließlich die türkische Führung besetzten Kadiköy. Bereits ein Jahrhundert vor der Gründung Konstantinopels war Kadiköy unter osmanischer Herrschaft.1
In der Zeit der Eroberung war Chalzedon eine ländliche Siedlung geführt von Richtern. So entstand der Name Kadiköy – Richterdorf. Im Osmanischen Reich war Kadiköy der Markt für landwirtschaftliche Güter und ein Wohngebiet für Menschen, die mit dem Boot nach Konstantinopel pendelten. Seither versprüht Kadiköy durch seine abgegrenzte Entwicklung eine extraordinäre Atmosphäre. Kadiköy ist ein Viertel Istanbuls, welches von detaillierter und kleinteiliger Parzellierung geprägt ist. Die Diversität des Viertels ist herausstechend, denn nicht nur alternativ denkende Menschen leben hier, mittlerweile ist Kadiköy auch für die höhere Mittelschicht interessant geworden.
Regelwerke
Das Bild Kadiköys ist ein Gemisch aus verschiedenen Epochen, die gleichzeitig die Art und Weise der politischen Auseinandersetzung mit der Entwicklung Istanbuls repräsentiert. Zwischen einmaligen Bauwerken des neo-osmanischen Eklektizismus der Ersten Nationalen Architekturbewegung wie der Haydarpasa-Bahnhof von 1908 und Bautypen des Funktionalismus und der Symmetrie der Zweiten Nationalen Architekturbewegung wie beispielsweise die Süreyya Oper hat sich auch ein Meer der „Nicht-Architektur“entwickelt, die hauptsächlich durch die staatliche Wohnungsbaugesellschaft (TOKİ) veranlasst und gebaut wird.2 Unter der Vision, „nicht nur Armutssiedlungen und Elendsgebiete zu transformieren, sondern die Bildung solcher Areale mit dem Hausbauprogramm für Gruppen mit kleinem Einkommen zu unterbinden“ legitimiert die Regierung jegliche Entscheidung der Transformation. Das Ergebnis ist ein immer wiederkehrender Typus aus einem Stahlbetonskelett mit Fertigbauteilen und inneliegendem Erschließungskern aus Treppenhaus und Aufzugsschacht, wobei der Aufzug variabel eingesetzt wird, abhängig von den finanziellen Mitteln. Dieser Typus erhält je nach Baufeld unterschiedliche Dimensionen und variiert in seiner Grundrissaufteilung, wobei jedoch bei der Erschließung immer schattenorientiert gebaut wurde, um die Wohnungen möglichst kühl zu halten. Die meisten Baufelder weisen nur eine geringe Tiefe aus, weshalb die durchschnittliche Bauhöhe zwischen 15 und 18 m beträgt, um der Quantität der potenziellen Mieter:innen gerecht zu werden. Die Gebäude richten sich durch die zur Straße gerichteten Balkone und Veranden immer nach außen.
Entwicklung
Diese Entwicklung entstand, wie bei den meisten Vierteln in Istanbul, aus dem Strukturtypus der Gecekondu heraus. Dies geht zurück bis in die 1960-er Jahre. Da nach dem zweiten Weltkrieg eine neue Periode der politischen, wirtschaftlichen und auch räumlichen Dynamik entstand, entwickelte sich eine agrarexportorientierte Entwicklung, die eine Überbevölkerung auf dem Land mit sich zog und die Menschen in die Städte fliehen ließ. Dies überforderte vor allem die lokalen Behörden und brachte vielseitige Herausforderungen der räumlichen und sozialen Strukturen hervor. Eine selbstgewählte Lösung der Einwandernden waren die „Gecekondus“, mit der sie auf die akute Wohnungsnot reagierten. Rapide stieg die Zahl der „Gecekondus“ in den darauffolgenden Jahren, weshalb durch diverse Gesetzesänderungen (Gecekondu Gesetz, Wohnungseigentumsgesetz) eine Linearisierung der Entwicklungsphase hervorzurufen.3 Hierbei wurde darauf Wert gelegt, dass die Wohneinheiten im Folgenden von mehreren Individuen besessen wurden und kleinkapitalistische Akteure Baudienstleistungen für den Grundstücksbesitzenden im Tausch gegen eine Wohneinheit annahmen. Grundstücksbesitzende boten Grundstücke für den Bau eines mehrstöckigen Apartments gegen eine bestimmte Zahl von Wohneinheiten für den Eigenbedarf oder Weiterverkauf an.
Programme
Bis auf Ausnahmen, ähnelt sich die programmatische Anordnung der Häuser in Kadiköy. Nachdem viele Arbeiter:innenhäuser nach dem Nichtgebrauch abgerissen wurden, wurde darauffolgend Gebäude mit großzügig geplanten Erdgeschossen entworfen, welche meistens gewerbliche Nutzungen in Form von Cafés, Restaurants oder Einzelhandel vorsahen. Die Bauten ohne gewerbliche Erdgeschosszone sind meist Hochparterre angelegt, während sich in 2 Kellergeschossen weitere Wohnungen befinden, um möglichst viel Wohnraum bieten zu können. Die darüber folgenden Geschosse sind mit Wohnungen ausgestattet. Eine Dachterrasse ist einer Wohnung des Hauses zugeordnet oder dient einer gemeinschaftlichen Nutzung.
Die noch vorhandenen Baulücken werden immer stärker nachverdichtet, während andere Gebäude verfallen und zu einem unvorhersehbaren Zeitpunkt durch preisintensive Townhauses ersetzt werden. Zeitweilen kann man noch alte Holzbauten erkennen, die die traditionelle Programmierung von Solitärbauten mit Garten vermuten lassen.
Verkehr und Infrastruktur
Durch die vorteilhafte, geografische Lage Kadiköys an der südlichen Mündung des Bosphoruses ist Istanbul durch verschiedenste Transportmittel an das öffentliche Nahverkehrssystem angeknüpft. Trotz, dass der Ausbau in periphere Distrikte schleppend vorangeht, lässt sich Kadiköy von der asiatischen, wie auch von der europäischen Seite schnell erreichen. Verschiedene Fährgesellschaften bieten eine Verbindung zu den Anlegern in Eminönü, Karaköy und Beyoglu ausgehend vom Hafen in Kadiköy. Desweiteren gibt es eine Verbindung zu den Prinzeninseln. Hinsichtlich des Autoverkehrs ist Kadiköy durch den Eurasien-Tunnel mit der europäischen Seite verbunden, der sich nahe dem Haydarpasa-Bahnhof befindet. Im Stadtstraßenvekehr verlaufen die Stadtautobahn Otoyol 1 und die staatliche Schnellstraße D100 durch den Distrikt, wobei die Schnellstraße die Stadt Edirne im Wetsen mit dem Bezirk Agri im Osten der Türkei verbindet. Wichtig für die infrastrukturelle Erschließung sind auch die Metrolinie M4 Richtung Sabiha-Gökcen-Flughafen, wie auch die Metrobuslinie Richtung europäischer Seite, die ihre Endhaltstelle hinter dem Fenerbahce-Zentrum hat.
Der Zugang Kadiköys zu Fuß erfolgt über zahlreiche Straßen, die sich in im Zentrum in ein schachtelartiges Raster formen. Die Straßen und Gassen sind meist sehr schmal angelegt, sodass dem Fußgängerverkehr meist nicht genug Platz bleibt und immer wieder auf die Straße ausgewichen werden muss. Die Definition der Straßen entscheidet sich automatisch durch die mögliche Befahrbarkeit mit dem Auto, welches das wichtigste Verkehrsmittel in Istanbul darstellt.1 Im Jahr 2019 waren 3,5 Millionen Kfz-Wägen Istanbul, somit besaßen rund 22 % der Bevölkerung Istanbuls ein Auto.4 Durch die unkontrollierte Verdichtung wurde Istanbul jedoch weder für das Auto noch für den Menschen geplant.
Strukturelle Merkmale
Die Straßen des Zentrums von Kadiköy sind von einer Mehrschichtigkeit der Erdgeschosszone geprägt. Verschiedenste Geschäfte wie Handwerksbetriebe, traditionelle Kaffeehäuser oder Bakkal-Läden bestehen in einer friedlichen Koexistenz zueinander. Dies spiegelt auch die Vielfältigkeit der Bevölkerung wieder, denn bereits im Osmanischen Reich lebten in Kadiköy verschiedenste Volks-und Religionsgruppen, angefangen beim jüdischen bis hin zum muslimischen Bevölkerungsanteil.5 Viele Gebäude stammen vom Anfang des 20. Jahrhunderts, als der Bau des Haydarpasa-Bahnhofs anfiel, der von deutschen Architekt:innen und Ingenieur:innen errichtet wurde. Diese wohnten mit ihren Familien in Mehrfamilienhäusern in Kadiköy. Viele dieser Apartmenthäuser stehen leer, andere verfallen, wieder andere wurde in stereotypisierte Gebäude instandgesetzt. Infolgedessen ergibt sich ein heterogenes Bild aus hohen, mehrgeschossigen Bauten, die sich in schmalen Parzellen aneinanderreihen. Dazwischen entstehen größere und kleinere Grünräume, die in der weiteren Planung jedoch vernachlässigt werden und welchen keine große Bedeutung als Erholungsraum in der Stadt geschenkt wird.
Öffentlicher Raum
Der öffentliche Raum in Kadiköy ist überall und nirgendwo, denn dieser muss mit der politischen Stadtentwicklung gleichgesetzt werden. Allgemein sind Grünflächen in Kadiköy eher weniger auffindbar, den größten zusammenhängenden Grünraum stellt der Küstenbereich Moda Sahil Park dar, der als Promenade entlang der Küste geplant und weiter ausgebaut wurde. Die Bürger:innen Kadiköys mussten sich aufgrund des Mangels an sozialem Austauschraum urbane Nischen suchen, die sich nun zwischen gewerblichen Geschäften der Erdgeschosszone, Eckplätzen auf dem Bürgersteig oder auf Parkflächen befinden, die dann als Treffpunkte umfunktioniert werden. Durch die Ausrichtung der Gebäude hin zur Straße ist es dennoch für die Menschen möglich, zu kommunizieren, unabhängig von den Geschosshöhen, auf denen sie sich befinden.
Weiterhin wird durch den Ausbau der Küstenpromenade ein partizipativer Prozess der Stadtentwicklung auf Augenhöhe angekurbelt, der in den letzten Jahren mehr an Bedeutung gewonnen hat.6 Durch die fehlende Kommunikation seitens der nationalen Regierung werden Großprojekte nicht mit lokalen Instanzen entworfen, sondern von externen Investorengruppen, die profit-, nicht aber gesellschaftsorientiert entwerfen.
Sozio-politische Dimension
Der Raum Kadiköys ist bekannt für dessen gesellschaftlichen Vielfalt. Nach den Gezi-Protesten im Jahr 2013 zog es viele künstlerische Freischaffende nach Kadiköy. Ihr vorheriger Lebensstandort am Taksimplatz bot ihnen nicht die gewünschte Meinungsfreiheit, weshalb ein neues, unabhängiges Viertel gesucht wurde-Kadiköy. Doch auch hier versucht Präsident Erdogan mit der durch ihn vorangetriebenen Politik einen Konservativismus zu verwirklichen, der die Stadt von deren Menschen entfremdet. Doch durch die Entwicklung Kadiköys befinden sich die Menschen bezüglich ihrer Ansichten und Meinungen auf Augenhöhe. Ihrer Perspektive nach darf der öffentliche Raum nicht Machtinstrument der Regierung werden. Der gebaute Raum in Kadiköy wird Ausdruck der Solidarität, die die Menschen dort miteinander verbindet. Obwohl die Unterschiede zwischen den Menschen groß sind, vereint sie etwas: sie wollen den Wandel vorantreiben.5 Durch Menschen, die versuchen, den Strukturwandel durch Teilhabe wie z.B. Gemeinschaftshäuser abzufedern, wird statt Konflikt auf Kommunikation gesetzt. Das Viertel Yeldegirmeni ist durch solche Projekte bekannt. Das Atelierhaus „Art Here“ist durch seine verknüpfende Funktion von Café und Atelier bedeutend. Hier ist der Übergang zwischen Mitwirkenden und Besuchenden fließend. Die Menschen werden hier als Teil wahrgenommen und die Personen, die das Projekt gründeten, wollen in direkten Austausch mit Interessierten gelangen. Das Gebäude ist auch Anlaufstelle für Kunstschaffende aus Syrien, die noch keinen Wohnort haben.
Ein weiteres Projekt ist das TAK, welches von Seiten der Kommunalverwaltung unterstützt wird. Die Stadt zahlt hier die Betriebskosten des Gebäudes, wie auch die Gehälter fünf dessen Mitarbeitenden. Onur Atay, leitende Person des TAK, beschreibt es als eine Plattform, die von allen an Stadtentwicklung interessierten Personen genutzt werden kann.
Solche Projekte sind Anfänge einer partizipativen Stadtentwicklung. „Der größte Unterschied ist: Unser Verständnis von Regieren beruht auf Bürgerbeteiligung“, erklärt Aykurt Nuhoglu, seit 2014 Bezirksbürgermeister von Kadiköy“.7 Es besteht jedoch weiterhin die Angst um politische Teilhabe, da hieraus Konsequenzen seitens der Regierung folgen könnten.
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Autor*innen
Quellen
- „Dissertation, Bauingenieur-, Umwelt-, Geowissenschaften“. In: Räumliche Dynamik der Agglomeration Istanbul, S.57 ff, Karlsruhe, Institut für Technologie 2017
- „Stadtentwicklung und Segregation im Großraum Istanbul“. In: Geografische Rundschau, S.12 ff, Frankfurt am Main 2010
- „Istanbul-Primate City zwischen den Welten“. In: Geographische Rundschau, S.562 ff, Wiesbaden 1999
- ich mein´s gut!. Du denkst, in Istanbul fahren mehr Autos als in München. https://ichmeinsgut.de/2019/04/du-denkst-in-istanbul-fahren-mehr-autos-als-in-muenchen/, 28.2.2022
- Süddeutsche Zeitung. Wo das Leben blubbert. https://www.sueddeutsche.de/reise/yeldegirmeni-in-istanbul-wo-das-leben-blubbert-1.2584928, 28.2.2022
- Zenith. Istanbul gehört dir. https://magazin.zenith.me/de/kultur/stadtplanung-der-tuerkei, 28.2.2022
- Deutschlandfunk Kultur. Säkuläre Insel in Erdogans Reich. https://www.deutschlandfunkkultur.de/istanbul-kadikoey-saekulare-insel-in-erdogans-reich-100.html, 28.2.2022