Die Altstadt von Hanoi, auch 36-Gassen-Gebiet genannt, ist ein historischer Stadtteil mit großem kulturellem Erbe. Mit seinen engen Gassen, traditionellen Gebäuden und belebten Märkten ist die Altstadt Hanois ein faszinierendes Beispiel für die komplexe Dynamik urbaner Transformation. Von seiner Entstehung im Jahr 1010 bis zur heutigen Zeit hat die Altstadt zahlreiche sozioökonomische Veränderungen durchlebt, die durch historische Ereignisse und politische Reformen wie die Doi Moi Politik beeinflusst wurden.

Kurze geschichtliche Einordnung Hanois

Hanoi ist die Hauptstadt Vietnams und befindet sich im nördlichen Teil des Landes, das an China grenzt. Ha Noi bedeutet übersetzt „Stadt zwischen den Flüssen“, liegt im fruchtbaren Delta des Roten Flusses und war schon immer bekannt für seine zahlreichen Seen. Das Klima in dieser Region ist subtropisch-monsunal mit feucht-heißen Sommern und mild-trockenen Wintern. Hanois‘ Gründung und damit auch der Ursprung der Altstadt (vietnamesisch: Phố cổ Hà Nội) wird mit dem Bau der kaiserlichen Zitadelle auf das Jahr 1010 datiert. Sie befindet sich in der Nähe des heutigen Westsees. Zu dieser Zeit entwickelte sich die Stadt um die Zitadelle mit der Errichtung zahlreicher Sakralbauten wie Pagoden und Tempel, sowie Ansiedlungen, in denen die Bewohner*innen Landwirtschaft und Fischfang betrieben. 1 Unter französischer Kolonialherrschaft wurde Hanoi zur Hauptstadt von Französisch-Indochina. Während des Vietnamkrieges spielte die Stadt aufgrund der Nähe zum kommunistischen China eine bedeutende Rolle als politisches und militärisches Zentrum und wurde nach dem Krieg, unter Führung der kommunistischen Partei, zur Hauptstadt des vereinigten Vietnams.  Heute ist Hanoi, dank Wirtschaftsreformen und dem Aufschwung in der Tourismusbranche, zu einer wichtigen Metropole Südostasiens geworden.2

Vietnam
Hanoi Gewässer

 

Die städtebaulichen Merkmale der Altstadt

Die Altstadt Hanois bildet das historische Zentrum der Stadt und ist von einer ​​​​Mischung​​​ aus architektonischen Stilen und der Stadtentwicklung verschiedener Epochen geprägt.3 Die engen Straßen sind von einer Vielzahl traditioneller Gebäude gesäumt, die das kulturelle Erbe der Stadt widerspiegeln. Die Altstadt erstreckt sich über eine Fläche von etwa 100 Hektar, welche sich in 79 Straßen und 84 Blöcke unterteilt.2 Der Stadtgrundriss folgt einem gitterartigen Muster mit sich kreuzenden Straßen und Gassen, die ein Netz von Wegen bilden. Die Blöcke sind in schmale, lange Parzellen entlang der Straßen unterteilt und weisen ein dichte Baustruktur auf.3 Der architektonische Stil des alten Viertels ist durch eine Mischung aus vietnamesischen, chinesischen und französischen Einflüssen gekennzeichnet. Viele Gebäude haben zwei oder drei Stockwerke und schmale Fassaden aus Materialien wie Holz, Ziegel oder Laterit.2 Die als Schrägdach ausgebildeten Dächer sind mit Terrakotta-Ziegeln gedeckt.3

Distrikte von Hanoi
Altstadt Größenverhältnisse
Parzellierung

 

Die historische Entwicklung der Altstadt

Das heutige Straßenmuster der Altstadt reicht bis in das 15. Jahrhundert zu Zeiten des Feudalismus zurück. Zunächst handelte es sich um gewundene Dorfstraßen aus gestampftem Lehm, die erst nach und nach befestigt wurden. In dieser Zeit entstanden sogenannte Gewerbegassen, die auf bestimmte Handwerke spezialisiert waren. Es gibt beispielsweise eine  Silberstraße oder auch die Korbstraße. Die Gewerbegassen tragen noch heute den Namen „Hang“, was frei übersetzt Ware(n) bedeutet.2 Die Bewohner*innen der Gassen kamen aus den umliegenden Dörfern und organisierten sich meist in Gilden. Sie konnten in den Gassen das Dorfleben weiterführten und errichteten dafür Versammlungsorte und Tempel, um beispielsweise ihre Dorfheiligen zu ehren. In dieser Zeit entstanden, durch die stetige Grundstücksteilung, sehr schmale Parzellen mit den ersten Röhrenhäuser, in denen die Familien sowohl arbeiteten als auch lebten. Grundsätzlich war die Altstadt bis zur französischen Kolonialherrschaft eine dörflich geprägte Stadt, die stark autonom ausgebildet war. Hierfür wurden die Tore aus Mauerwerk oder Holz nachts geschlossen.2 Während der französischen Kolonialherrschaft fand in Hanoi eine räumliche Teilung in französische und einheimische Quartiere statt, was einen für viele Kolonialstädte üblichen bipolaren Stadttyp zur Folge hatte. Zusätzlich wurden viele der vorkolonialen Herrschaftssymbole abgerissen und durch französische Neubauten ersetzt. Die Altstadt wurde im Zuge der Kolonialzeit stark verändert: Neben der Trockenlegung der fließenden und stillen Gewässer, wurden auch viele der Tore zu den Gewerbegassen abgerissen. Die Infrastruktur wurde ausgebaut und einige der Straßen nach Vorbild der hausmannischen Boulevards begradigt.3 Die Autonomie der Altstadt wurde durch eine übergeordnete Stadtverwaltung aufgehoben und der Markthandel stark eingeschränkt. Das typische Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten blieb jedoch trotz der extremen Einschränkungen überwiegend erhalten und prägte auch während der Kolonialzeit das Leben in der Altstadt.1

Mit der Machtübernahme der Kommunisten im Jahr 1954 und der Einführung der sozialistischen Planwirtschaft änderte sich der städtebauliche Umgang mit der Altstadt. Wie unter französischer Herrschaft wurden zunächst zahlreiche Repräsentationsbauten, wie zum Beispiel das Ho Chi Minh Mausoleum errichtet, die im Einklang mit der sozialistischen Denkweise standen. Zudem hatte die Stadterweiterung Hanois Vorrang vor Bestandserhaltung und Denkmalschutz. In städtebaulicher Hinsicht gab es in der Altstadt keine großen Neuerungen. Bedeutende Veränderungen gab es jedoch hinsichtlich sozioökonomischer Entwicklungen. Die staatliche Plan- und Verwaltungsgesellschaft war durch durch Repressalien und Enteignungen geprägt und führten zu einem enormen Bevölkerungsrückgang und einer Abnahme der Handelsaktivitäten. Aufgrund der ökonomischen Stagnation erfuhr die Altstadt von Hanoi eine bemerkenswerte städtebauliche Konservierung und gilt bis heute als eine der am besten erhaltenen Altstädte Südostasiens.1

Straßen vor 1873
Straßen bis 1902
Straßen heute
Vietnamesisches und französisches Röhrenhaus

 

Wendepunkt Doi Moi-Politik

Mit der Einführung der Doi Moi-Reform im Jahr 1986 begann für Vietnam ein intensives Wirtschaftswachstum und für Hanoi eine bedeutende Stadtentwicklungsphase. Doi Moi, was wörtlich übersetzt „Erneuerung“ bedeutet, war ein Reformkurs, der den Übergang von einer sozialistischen Planwirtschaft zu einer freien Marktwirtschaft in Vietnam anstrebte. Mit der Umsetzung der Doi Moi-Politik kam es zu ansteigenden und ungeregelten Bautätigkeiten in der Altstadt. Um den steigenden Bedarf an Wohnraum und Gewerbeimmobilien zu decken, wurden sowohl neue Gebäude errichtet als auch bestehende saniert. Die Folge war ein sich zunehmend veränderndes Stadtbild. Die Transformation zerstörten große Teile des historischen Erbes der Altstadt, da die unkontrollierten Bautätigkeiten dazu führten, dass bis 1993 etwa die Hälfte der Altstadtgebäude abgerissen, umgebaut oder zerstört wurden. Zudem wurden viele der traditionellen Innenhöfe überbaut, sodass die Bebauungsdichte in diesem Gebiet auf über 90% anstieg.1 Neue Gebäude, sogenannte „Raketenhäuser“, wurden deutlich größer und höher gebaut, teilweise ohne Rücksicht auf die zulässige Höhe.  Ein weiterer markanter Aspekt der Entwicklung war der starke Anstieg des motorisierten Individualverkehrs. Mit dem verbesserten wirtschaftlichen Wohlstand stieg auch die Zahl der Fahrzeuge und führte zu verstopften Straßen und Verkehrsproblemen. Dies hatte Auswirkungen auf die Luft- und Lichtqualität in Hanoi. Die Doi Moi-Reformen brachten jedoch auch einen erhöhten Lebensstandard und einen Einkommensanstieg für die Bewohner*innen der Altstadt. Es gab einen Gründungsboom im privaten Sektor und der Handel florierte. Die Straßen wurden wieder mit Verkaufsstellen belebt, und es entwickelte sich die sogenannte „Pavement Economy“, die zu einer intensiven Nutzung der Gehwege und Straßenräume führte. Die Altstadt wurde zum Epizentrum der markt- und wirtschaftsräumlichen Revitalisierung von Hanoi.2 Die Bewohner*innen der Altstadt, insbesondere diejenigen, die an den Straßen wohnten, profitierten am meisten von dieser Entwicklung und wurden zu den treibenden Akteuren der Altstadt. Sie reagierten auf die schlechten Wohnverhältnisse mit ungesteuerten Modernisierungsmaßnahmen ihrer Häuser.6 International wurde diese rasche Entwicklung mit Sorge betrachtet. Es gab verschiedene Planungsansätze, um die historische Altstadt zu retten. Jedoch scheiterten die meisten Vorhaben an mangelnden finanziellen Mitteln und ausreichenden institutionellen Voraussetzungen. Erst Mitte der 90er Jahre wurde ein übergeordneter Masterplan für den Schutz und Erhalt der Altstadt entwickelt und eine zentrale Behörde für die Erstellung von baurechtlichen Richtlinien eingesetzt. Erstmals wurden Gebäude als Baudenkmäler klassifiziert und damit einhergehend fachgerecht restauriert.7 Trotz aller Bemühungen veränderte sich das Erscheinungsbild der Altstadt erheblich. Richtlinien zur Geschossigkeit wurden beispielsweise bis ins Maximale ausgenutzt oder eine Geldstrafe bei Verletzung billigend in Kauf genommen. Heute sind die Gebäude in der Altstadt deutlich höher und die Fassaden durch Reklametafeln geprägt.2

Stadtentwicklung
Entwicklung der Altstadt 

 

Abriss
Neubau

 

Das Röhrenhaus

Das Röhrenhaus ist ein typischer und charakteristischer Haustyp in der Altstadt von Hanoi, dessen Ursprung weit in die Geschichte der Stadt zurückreicht. Die ikonischen Röhrenhäuser stellen einen faszinierenden Aspekt der Architekturgeschichte dar, da sich an dessen Entwicklung beispielhaft die Transformationsprozesse der Altstadt und die sich ändernden Bedürfnisse der Einwohner*innen ablesen lassen. Röhrenhäuser, auch Laden- oder Tunnelhäuser genannt, weisen aufgrund der sehr schmalen Parzellierung innerhalb der Blöcke nur eine Breite von etwa drei bis vier, maximal sechs Meter auf, während sie sich circa 40 bis 100 m in den Block erstrecken. Die Theorie zur Entstehung geht auf die Zeit der strengen feudalen Ordnung zurück. Wie schriftliche Dokumente belegen, lag die Haupteinnahmequelle des Staates in der Versteuerung kaufmännischer Tätigkeiten. Dabei wurde die Höhe der Abgaben nur nach der Breite der Ladenfronten bemessen. Um gleichmäßige Abgaben zu generieren, wurde die Breite der Ladenfronten dann auf drei bis vier Meter festgeschrieben.2 Die Röhrenhäuser verfügen über zwei Geschosse, wobei sich das Erdgeschoss über drei Meter und das Obergeschoss über maximal zweieinhalb Meter erstrecken. In die Tiefe des Grundstückes sind die Gebäude in drei bis vier Gebäudeabschnitte gegliedert, wobei die dazwischenliegenden ​​​​Innenhöfe​​​ als Übergangszone dienen. In diesen Abschnitten sind alltagsorientierte Nutzungen untergebracht. Im vorderen Gebäudeteil, mit Orientierung zur Straße, befindet sich in der Regel ein Ladengeschäft, um Handel zu betreiben. Angrenzend daran liegt meist ein kleiner Lagerraum mit anschließendem Hof als Werkstatt für die produzierten Waren. Dahinterliegend befindet sich ein Wohnzimmer, mit angrenzendem Innenhof für die Kinder. Daran anschließend befindet sich eine Küche inklusive Esszimmer mit einem Freiraum zum Aufhängen der Wäsche. In dem letzten Gebäudeteil befindet sich dann ein Badezimmer mit Toilette. In den Obergeschossen sind die Schlafräume der einzelnen Familienmitglieder, wobei im vorderen Gebäudeteil die Fassade in Richtung Straße zurückspringt. Aufgrund des von Monsunniederschlägen beeinflussten Tropenklimas haben die Häuser typischerweise eine starke Dachneigung, um ein schnelles Abfließen des Regenwassers zu ermöglichen. Währenddessen sorgen Höfe und Balkone für eine natürliche Belüftung und Klimatisierung.2 Röhrenhäuser hatten früher in der Regel eine Lebensdauer von nur wenigen Jahrzehnten, da sie aufgrund der dichten Bebauung und der leicht entzündlichen Baumaterialien häufig abgebrannt sind, wieder aufgebaut oder abgerissen wurden. Das älteste noch erhaltene Röhrenhaus ist circa 140 Jahre alt und zeigt das Röhrenhaus in seiner urspünglichen Form. Es wurde 1883 erbaut und steht in der Hang Bac Straße 47 in Hanois Altstadt.2 Unter französischer Kolonialzeit wurden neue Bautechniken eingeführt und die Röhrenhäuser aus Brandschutzgründen in nicht entflammbaren Materialien errichtet. Die Fassaden erhielten den typischen kolonialen Stil und die Gebäude wurden insgesamt deutlich größer und komfortabler.3 Im Zuge der Doi Moi-Reform veränderten sich die Lebensumstände der Bewohner*innen der Altstadt drastisch. Das historische Zentrum wurde zu einem beliebten Ziel von Touristen*innen und Geschäftsreisenden, so dass der Handel boomte und das Einkommen hier überdurchschnittlich stieg. Trotz der sich verschlechternden Lebensbedingungen aufgrund der ansteigenden Bevölkerungsdichte, überzeugten die finanziellen Vorteile, so dass die Bewohner*innen in ihren Röhrenhäusern bleiben wollten.2 Angesichts der Überbelegung vieler Röhrenhäuser wies das Areal zwischenzeitlich mit bis zu 1900 Personen pro Hektar die höchste Einwohnerdichte in Südostasien auf. In vielen Häusern lebten durchschnittlich zehn Familien zusammen, so dass pro Person teilweise nur 1,5 Quadratmeter Wohnfläche zu Verfügung stand.1 Um ihre Lebensumstände zu verbessern, wurden viele der Röhrenhäuser abgerissen oder umgebaut. Die traditionellen Innenhöfe wurden überbaut und die Häuser um mehrere Geschosse aufgestockt. Die charakteristischen Ziegeldächer wurden durch einfaches Wellblech ausgetauscht, die alten Holzverschläge durch Metallgitter ersetzt, um Klimaanlagen an den Fassaden befestigen zu können.3 Insgesamt erfuhren die Röhrenhäuser zu dieser Zeit die tiefgreifendste Transformation.

Röhrenhaus Axonometrie
Röhrenhaus Entwicklung

 

Verkehr und Infrastruktur

Der Verkehr bildet eines der prägendsten Merkmale von Hanoi. Spektakulär beladende Mopeds, überfüllte Straßen und Kreuzungen, Verkehrsregeln, die häufig ignoriert werden, bestimmen den Straßenraum.4 Aufgrund der Enge der Straßen in der Altstadt ist der motorisierte Verkehr hier in vielen Bereichen eingeschränkt. Viele der Straßen sind nicht breit genug, um Autos aufzunehmen, so dass die Hauptverkehrsmittel im Viertel das Motorrad, das Fahrrad oder der Fußweg sind. Obwohl Motorräder die Straßen dominieren, spielen auch Fußgänger eine wichtige Rolle in der Verkehrsdynamik des alten Viertels. Die Bürgersteige sind zwar schmal, aber dennoch wichtige Fußgängerwege, auf denen sich Einheimische und Besucher*innen zu Fuß durch die belebten Straßen bewegen.3Die technische Infrastruktur der Altstadt trägt ebenso zum Erscheinungsbild der Altstadt bei. Stromleitungen liegen überwiegend frei und sind an den Fassaden der Häuser befestigt. Eine neue Herausforderung stellt der Umgang mit Regenwasser dar. Die Kanalisation der Altstadt stammt noch aus der französischen Kolonialzeit und ist heute durch die zunehmenden Starkregenereignisse oft überlastet. Die Problematik wird durch den Rückbau vieler Seen in Hanoi verstärkt.9

Hauptstraße
Nebenstraße
Gasse
Rush hour
Gasse mit Kabel

Öffentlicher Raum

Die Straßen und Gassen der Altstadt von Hanoi bilden das Rückgrat des öffentlichen Raums. Alle Gassen sind für Fußgänger frei zugänglich und die Straßen fungieren als öffentlicher Marktplatz und Raum für soziale Interaktion. Jede freie Fläche wird als Treffpunkt oder Handelsort verstanden. Der öffentliche Raum wird durch eine Vielzahl historischer Tempel und Pagoden bereichert. Diese religiösen Stätten dienen nicht nur als Orte des Gebets und der Ahnenehrung, sondern auch als kulturelle und soziale Zentren. Sie sind oft von einem kleinen Vorplatz umgeben, der den Menschen Raum für Interaktion bietet. Die Freiraumstrukturen innerhalb der Blöcke wurden früher durch die Innenhöfe der Häuser ergänzt, die jedoch heute aufgrund des Wohnungsmangels überwiegend überbaut sind. Den größten und wichtigsten öffentlichen Ort der Bewohner*innen der Altstadt stellt der südlich angrenzende Hoan-Kiem-See, der als beliebter Treffpunkt und Erholungsgebiet dient. Mit seiner umlaufenden weiten Promenade und den grünen Parkflächen, steht er im Kontrast zu der dichten, hektischen Altstadt und bietet den Einheimischen und Tourist*innen Raum für sportliche Aktivitäten und Ruhe.3 Obwohl die Altstadt stark urbanisiert ist, gibt es dennoch verschiedene Formen der Vegetation. Während der Kolonialzeit wurden die Hauptstraßen, ähnlich der Boulevards in Frankreich, von Bäumen gesäumt. Diese über hundert Jahre alten Bäume sind größtenteils noch erhalten und bieten Schatten und und ein gutes Klima innerhalb der Straßen.10

Erdgeschoss und Straßenraum als öffentlicher Raum
Spielende Kinder

 

Programm

Seit der Entstehung der Altstadt haben sich unterschiedliche Nutzungen stets überlagert und gemischt. Hier wurde und wird gelebt, gearbeitet, produziert und gehandelt. Auch die Gebäudetypologie der Röhrenhäuser ist auf diese Durchmischung zurückzuführen. Zur Straße orientierte sich immer eine gewerbliche Nutzung, wohingegen sich die privateren Einheiten in das Blockinnere abstaffelten. Früher waren die Nutzungen eher traditioneller handwerklicher Herkunft, wie noch heute die Straßennamen erkennen lassen. So gab es Straßen in denen nur Silberware, andere in denen Körbe und Matten hergestellt und verkauft wurde.11 Heute hat sich das Geschäftsfeld verlagert. Nur noch wenige Bewohner*innen gehen ihren traditionellen Berufen nach. Dafür gibt esviele Hotels, Souvenirläden, Tourismuscenter, Cafés und Schnellrestaurants. Zudem hat sich das Geschäftsfeld aufgrund der guten Einkommensmöglichkeiten auf den Bürgersteig ausgeweitet und so den Begriff „Pavement Economy“ etabliert.2

Pavement economy

 

Wechselwirkungen der Altstadt

Die Familienstrukturen in Vietnam haben schon immer eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Altstadt Hanois gespielt. So wird in Vietnam traditionell großer Wert auf familiäre Bindungen und Unterstützung innerhalb der Familie gelegt. Oft leben mehrere Generationen unter einem Dach und teilen sich den Wohnraum. Während die Erwachsenen berufstätig sind, verbringen die jüngste und die älteste Generation viel Zeit gemeinsam zu Hause.8 Die starke Verankerung der Familienstrukturen hatte auch Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung der Altstadt. Viele der Familien betreiben in ihren Häusern kleine Geschäfte oder Handwerksbetriebe, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Dies hat zu einer großen Anzahl von Kleinbetrieben in der Altstadt geführt, die das Wirtschaftsleben prägen und die Familien zu den einflussreichsten Akteur*innen in der Altstadt machen. Die wirtschaftliche Öffnung nach der Doi Moi-Reform brachte durch den Einkommensanstieg tiefgreifende Veränderungen in den soziokulturellen Strukturen mit sich. Die Neugier der jüngeren Generationen auf andere Länder und westliche Einflüsse hat stark zugenommen, was vor allem auch durch den Zugang zu den sozialen Medien gefördert wird.5 Es bleibt abzuwarten, inwieweit die traditionellen Lebens- und Arbeitsweisen von künftigen Generationen fortgeführt werden und wie sich dadurch der Charakter der Altstadt verändern wird. Dadurch ist auch die Frage um den Erhalt der Altstadt sehr viel komplexer geworden. Im Zuge der Modernisierungen, die die Bewohner*innen der Altstadt zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen vornahmen, verlor Hanoi einen Teil seines architektonischen Erbes. Die entwickelten Masterpläne für den Erhalt der Röhrenhäuser konnten bisher kaum umgesetzt werden, da es den Institutionen an ausreichenden finanziellen Mitteln und geschultem Personal fehlt.6 Außerdem stellt sich die Frage, in welchem Sinne die Altstadt eigentlich restauriert werden soll.5 Kann die Altstadt zu einem Museum werden, das sich nicht mehr an die realen Lebensbedingungen seiner Bewohner*innen anpasst, sondern nur noch im Erhalt seinen Sinn findet? Oder arbeitet man mit den Hauseigentümern*innen zusammen und zeigt ihnen, wie sie die letzten verbliebenen traditionellen Häuser fachgerecht sanieren können, ohne sie zu zwingen in unzureichenden Wohnverhältnissen zu leben? Es wäre eine spannende Gelegenheit für Hanoi, den Planungsprozess zu demokratisieren und der Bevölkerung Beteiligungsmöglichkeiten zu bieten. Nur so könnte gemeinsam der Charakter, die Identität und vor allem die Vitalität dieses gewachsenen Handels- und Geschäftsviertels erhalten werden und den Menschen die Möglichkeit gegeben, ihre traditionelle Lebens- und Arbeitsweise fortzuführen.

 

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Autor*innen

  • Karoline Engel (Leibniz Universität Hannover, Fakultät für Architektur und Landschaft, Sommersemester 2022)
  • Sophie Meyer (Leibniz Universität Hannover, Fakultät für Architektur und Landschaft, Sommersemester 2022)

Quellen

  1. Weibel, Michael: „Die Altstadt von Hanoi: Ein Abbild urbaner Transformationsprozesse“. In: Geographische Rundschau 55, 2003, Heft 1, S. 32-38, 01/2003, 32-38, 2003
  2. Nguyen, Minh Quang: „Die sozioökonomische Entwicklung der Altstadt von Hanoi“. In: Arch+ Vietnam - Die stille Avantgarde, 226/2016, 122-131, 20017
  3. „Wandel im Laufe der Zeit“. In: Hà Nội: CAPITAL City Photo Book. 1st edition, 65, Hanoi
  4. Hilbert, Henning: „Verkehr in der Hauptstadt“. In: Hà Nội: CAPITAL City Photo Book. 1st edition, 197, Hanoi
  5. Schulz, Astrid: „Menschen in der Hauptstadt“. In: Hà Nội: CAPITAL City Photo Book. 1st edition, 151, Hanoi
  6. Nhu, Dao Thi: Urbanisation and urban architectural heritage preservation in Hanoi: The community’s participation?, Universität Paris 2017
  7. Hanoi Times: Hanoi Old Quarter master plan to address challenges in preservation. https://hanoitimes.vn/hanoi-old-quarter-master-plan-to-address-challenges-in-preservation-314699.html, 03.06.2023
  8. „Soziokulturelle Entwicklungen vor und nach der Reform“. In: Die Raumorganisation im vietnamesischen Wohnungsbau, Arch+ Vietnam - Die stille Avantgarde Ausgabe 226, S. 132-135, 2016
  9. VN Express: 'Long-drawn urban planning issues blamed for Hanoi flooding'. https://e.vnexpress.net/news/news/long-standing-urban-planning-issues-to-blame-for-hanoi-s-flooding-4470344.html, 03.06.2023
  10. Hanoi Times: 'Old green trees - a special heritage of Hanoi'. https://hanoitimes.vn/old-green-trees-a-special-heritage-of-hanoi-316539.html, 03.06.2023
  11. Die Altstadt von Hanoi. https://www.vietnam.com/de/norden-vietnams/stadte/hanoi/sehenswurdigkeiten/die-altstadt-von-hanoi.html, 03.06.2023
  • Titelbild: Engel, Karoline: Typische Situation in der Altstadt, Februar 2018, Februar 2018
  • Bild 1: Engel, Karoline: Abriss, Februar 2018
  • Bild 2: Engel, Karoline: Neubau, Februar 2018
  • Bild 3: Engel, Karoline: Rush Hour, Februar 2018
  • Bild 4: Engel, Karoline: Gasse mit Kabel, Februar 2018
  • Bild 5: Engel, Karoline: Spielende Kinder, Februar 2018
  • Bild 6: Engel, Karoline: Pavement Economy, Februar 2018
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