Die im Jahr 1949 eingerichtete temporäre Zeltsiedlung im Nordlibanon ist mittlerweile eine richtige Stadt, in der ungefähr 31.000 Menschen leben. Zwar wurde die Siedlung während des Krieges 2007 zu 95 % zerstört, doch haben die Einwohner*innen die Siedlung gemeinsam mit Architekten*innen anschließend wieder aufgebaut. Ein beeindruckendes Modell der Beteiligung von Bürger*innen.

Geschichte

Siebzig Jahre nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 sind immer noch mehr als fünf Millionen Palästinenser*innen von den Vereinten Nationen (UN) als Geflüchtete registriert. Viele von ihnen leben heute in den circa 60 Flüchtlingscamps im Libanon. Nahr El-Bared ist eines davon. Das Camp wurde im Dezember 1949 von der Liga der Rotkreuzgesellschaften gegründet, um die Geflüchteten aufzunehmen, die unter den schwierigen Winterbedingungen im Beqaa-Tal und in den Vororten von Tripoli litten.1 

Es liegt an der Mittelmeerküste zwischen Akkar und Tripoli und wurde nach dem angrenzenden Fluss, dem  Bared River, benannt. Das Camp besteht aus dem offiziellen, alten Camp und dem inoffiziellen, neuen Camp, beide unterstehen der UNRWA (United Nations Relief and Works Agency). Das neue Camp erstreckt sich nördlich des Alten und in geringerem Maße auch in den Osten und Süden. Es ist weniger dicht besiedelt und viele wohlhabendere Familien haben in den letzten Jahren dort ihre Häuser gebaut.2 

Da die Palästinenser*innen im Libanon keine Staatsbürgerschaft besitzen, haben sie kein Recht auf Eigentum und sind in ihrer Berufswahl und -ausübung stark eingeschränkt. Das “Right of Return” nach Palästina, welches nur besteht, solange sie ihren Status als Geflüchtete beibehalten, stoppt viele Bewohner*innen das Camp zu verlassen und einen Neuanfang zu wagen und erklärt die im Laufe der Jahrzehnte entstandene bauliche Dichte und Ausweitung des Camps.3 

2007 wurden in einem dreimonatigen Krieg zwischen Anhänger*innen der Al-Qaida und der libanesischen Armee das Camp und seine Infrastruktur zu 95 % zerstört. Die libanesische Regierung stimmte nach dem Krieg dem Wiederaufbau des Camps zu, welcher im November 2009 begann. Für die Einwohner*innen wurde am Rande des Camps eine Container Siedlung  gebaut.1 Im April 2011 kehrten die ersten Familien in die neu errichteten Häuser zurück.5

Übersicht
Historische Entwicklung

Strukturelle Merkmale

Die Verdichtung und Ausweitung der baulichen Struktur fand in den Jahren vor der Zerstörung informell statt. Das Camp hatte seine Ursprünge im nördlichen Bereich direkt am Mittelmeer und bestand anfangs aus einer Zeltsiedlung. Aufgrund der Dauer des Aufenthaltes und den damit verbundenen familiären Zuwächsen, wurden von den Bewohner*innen Häuser in Stahlbetonweise erbaut, die schnell die gesamte Camp-Fläche füllten und nur 12 % unbebauten Raum ließen.4 

In den kommenden Jahren wurden diese Strukturen zudem vertikal erweitert, da dies die einzige Möglichkeit darstellte, weiteren Wohnraum zu schaffen. Die ungeplante, heterogene Bebauungstruktur folgte keinem Raster. Sie zeichnete sich durch eine gassenartige Erschließung aus. Wohlhabendere Familien bauten sich rund um das offizielle Camp ihre Häuser. Diese wurden im Krieg von der Zerstörung weniger betroffen.

Nach dem Krieg wurde die alte Struktur aus der Erinnerung der Bewohner*innen im Hinblick auf die Nachbarschaft und das soziale Gefüge wieder rekonstruiert und mithilfe von Architekten*innen so geplant, dass die hygienischen Verhältnisse sowie die Freizeit- und Wohnqualität optimiert wurden.5 Dafür wurde das Baugebiet in acht Bauabschnitte unterteilt. Der Plan sah eine Erhöhung der Freiflächen von 12 % auf 35 % vor, um die Erschließung sowie die Belüftung und Belichtung zu verbessern. Zudem fand eine Entprivatisierung einiger Bereiche und Räumlichkeiten statt, um jedem Wohnblock einen gemeinschaftlich nutzbaren Innenhof zu geben. Die Blöcke durften nicht größer als 3.000 m² sein und eine Höhe von vier Vollgeschossen nicht überschreiten.4

Baustruktur damals
Baustruktur heute
Bauabschhnitte

Entwicklung

Neben der Optimierung der städtebaulichen Struktur wurde ebenfalls das gesamte Abwassersystem in Nahr El-Bared neu geplant, um den heute vorhandenen hygienischen Standards zu entsprechen. Es gibt heute einen wesentlich repräsentativeren Eingang in das Camp und die Verbesserung der Belichtung in den Innenräumen ist spürbar. 

Die Familien haben weiterhin die Möglichkeit ihre Häuser unabhängig von der umliegenden Bebauung vertikal zu erweitern, da die Architekten*innen sich bewusst für das vorher bestehende, traditionelle Bausystem entschieden haben, um Arbeitsmöglichkeiten für die palästinensischen Geflüchteten zu schaffen. 

Bei dem System handelt es sich um einen klassischen Stahlbeton-Skelettbau (Säulen und Platten), der mit einem Flachdach abgeschlossen wird, das zur Lagerung von Wassertanks dient. Neben Stahlbeton finden sich auch Zementblöcke, lokaler Granit und Keramikfliesen in der Ausgestaltung. Die Dächer der Häuser haben alle einen visuellen Bezug zum angrenzenden Mittelmeer und schaffen einen zusätzlichen privaten Außenraum für die Einwohner*innen.6

Die Innenhof Typologie schafft zudem noch einen weiteren halböffentlichen Freiraum für die jeweiligen Bewohner*innen in den Erdgeschossen. Die Höfe sind halböffentliche Räume, die von den angrenzenden Hauseigentümer*innen nach ihren entsprechenden Bedürfnissen genutzt werden. Außerdem gibt es Gestaltungsvorschläge, die die Integration von Grünflächen, Pflanzen und Sitzmöglichkeiten vorsehen - diese Maßnahmen sind für den letzten Bauabschnitt vorgesehen.8 Die Bewohner*innen haben bereits selbstständig damit begonnen, die Freiflächen zu gestalten.

Das neu entstehende Camp war im Jahr 2021 zu 72 % fertiggestellt und von ungefähr 5000 Familien, konnten 3550 in die Siedlung zurückkehren.9 Aufgrund von Finanzierungsproblemen wurde der Wiederaufbau verzögert und die restlichen Familien leben weiterhin in dem am Rande des Camps liegenden temporären Unterkünften unter defizitären Bedingungen.3 

Klassisches Wohnhaus
Innenhof-Typologie

Verkehr und öffentlicher Raum 

Das Camp liegt in der Nähe eines großen Verkehrsnetzes, das Tripoli mit Syrien und die Küste mit dem Hinterland von Akkar verbindet.2 Die mittig durch das Camp verlaufende Hauptverkehrsachse, wurde im Zuge der Wiederherstellung des Camps auf 12 m Breite erweitert, um das hohe Verkehrsaufkommen zu bewältigen und Parkplatzflächen anbieten zu können. Während der Bauarbeiten wurde außerdem eine Umgehungsstraße gebaut, die heute weiterhin aktiv ist.2 Die Siedlung ist ausgehend von der mittigen Hauptstraße in ein unregelmäßiges Raster aus sekundären Straßen unterteilt. Innerhalb der dabei entstehenden diversen Blöcke ist eine, ebenfalls unregelmäßige, Struktur aus Gassen zu finden. Die gassenartige Struktur erinnert an die Zeit vor der Zerstörung der Siedlung und sollte beim Wiederaufbau erhalten bleiben, um das Nachbarschafts- und Sozialgefüge zu bewahren. Um eine bessere Zugänglichkeit, sowie verbesserte Luft- und Lichtverhältnisse zu schaffen, wurden alle Zuwegungen verbreitert. Dies ermöglicht ebenfalls die Ein- und Durchfahrt von Rettungsfahrzeugen.

Hauptstraße
Gasse
Innenhof

Die vergrößerten Straßenräume erzeugen außerdem neue öffentliche Freiräume. Der Wiederaufbau zielte auf eine Erweiterung der Freiräume ab und setzte dies mit öffentlichen und halböffentlichen Innenhöfen und Spielplätzen um. Die Straßen und Innenhöfe wurden betoniert, um den öffentlichen Raum sauber zu halten und die infektionsfördernde Ansammlung von Wassermassen zu verhindern.6 Es gibt zwei zentrale Einkaufsstraßen im Camp - die Hauptstraße und den Souk, die von den Bewohner*innen und Anlieger*innen genutzt werden. Im Bereich des inoffiziellen Camps findet man vermehrt Grünräume und Sportplätze, die frei zugänglich sind, aber innerhalb des offiziellen Bereiches keinen Platz finden. Es gibt im Libanon keinen öffentlichen Personennahverkehr im klassischen Sinne, dementsprechend gibt es keine Bahn- oder Bushaltestellen und die Einwohner*innen verlassen sich auf ein informell entstandenes Bus-Taxi-System, welches unserem europäischen Ridesharing-Konzept ähnelt.7

Grundriss mit Innenhöfen

Programme

Vor der Zerstörung gab es innerhalb des Camps drei Krankenhäuser, vier Ärztehäuser, einige Moscheen und Gemeindezentren und rund 15 Schulen und Kindergärten - alle verteilt über das gesamte Camp. Diese öffentlichen und administrativen Nutzungen wurden im Zuge des Wiederaufbaus auf die Grundstücke an der Mittelmeerkante ausgelagert, teilweise vereint und vergrößert und durch neue Nutzungen ergänzt. Der Komplex nennt sich heute UNRWA-Center und besteht aus fünf Schulen, dem Northern Training Zentrum und einem großen Krankenhaus.2

Innerhalb des Wohngebietes findet man vereinzelt Multifunktionshallen sowie zwei Moscheen. Die Wohnhäuser haben zu den Hauptstraßen hin öffentliche Nutzungen in der Erdgeschosszone - dort haben die Hausbewohner*innen meist ihre kleinen Geschäfte, Gastronomiebetriebe oder bieten Dienstleistungen an.6

Schnitt durchs Wohnviertel

Ökonomische Dimension

Nahr El-Bared war durch seine Lage eines der wirtschaftlich am stärksten integrierten Lager im Libanon und war mit seinem Souk ein wichtiger Bestandteil des regionalen Handels. Das Wort Souk kommt aus dem arabischen Sprachgebrauch und bedeutet Markt oder auch Geschäftsviertel. Dieser Souk zog sich von Norden nach Süden durch das Camp, kreuzte die zentrale Hauptachse und bot eine dichte Handels- und Dienstleistungsaktivität. Der Großteil der Unternehmen im Nahr el-Bared ist darauf ausgerichtet, den Transportsektor zu bedienen (Reparatur und Wartung), Reisende und Fahrer*innen zu verpflegen und die benachbarten Dörfer sowie die Stadt Akkar mit Waren und Dienstleistungen zu versorgen. Viele der Bewohner*innen, aber auch Menschen aus dem Umland, haben die Chance genutzt, gewerblich tätig zu sein und haben ihre Geschäfte über die Jahre aufgebaut.2 Die Zerstörung des Camps 2007 bedeutete einen herben Schlag für die lokale Wirtschaft. Der Souk wird - und ist bereits in großen Teilen - im Zuge des Neuaufbaus wieder rehabilitiert und soll das Camp wieder zu einem der wirtschaftlichsten Flüchtlingslager im Libanon machen.4

Souk
 

Auch interessant

Autor*innen

  • Sophie-Friederike Müller (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Wintersemester 2020)
  • Razan Shaaban (Leibniz Universität Hannover, Abteilung für Stadt- und Raumentwicklung, Wintersemester 2020)

Quellen

  1. Amara, Sofia: France24. The challenge of rebuilding Lebanon's Nahr al-Bared refugee camp. https://www.france24.com/en/20190208-revisited-challenge-rebuilding-lebanon-nahr-al-bared-palestinian-refugee-camp-unrwa, 08.02.2019
  2. Grand Serail (Hg.): UNDP. Lebanese Republic Presidency of the Council of Ministers: Post Conflict Relief, Recovery and Reconstruction, in Nahr El-Bared Crisis Appeal. http://www.undp.org.lb/WhatWeDo/Docs/NBC Crisis Appeal - Background Paper.pdf, 10.11.2007
  3. De Stone, Roshan / Suber, David: The New Arab. The failed reconstruction of Lebanon's Nahr al-Bared Palestinian camp. https://english.alaraby.co.uk/english/indepth/2019/6/11/the-failed-reconstruction-of-lebanons-nahr-al-bared-palestinian-camp, 11.06.2019
  4. United Nations. Nahr el-Bared refugee camp relief, recovery and reconstruction framework for 2008-2011 – UNRWA report. https://www.un.org/unispal/document/auto-insert-196921/, 31.05.2008
  5. Innab, Saba: Herskhazeen. Reconstruction of Nahr el-Bared Refugee Camp. http://www.herskhazeen.com/reconstruction-of-nahr-el-bared-refugee-camp, 12.11.2020
  6. Barakat, Sultan: Archnet. 2013 On Site Review Report- Reconstruction of Nahr el-Bared Refugee Camp. https://s3.amazonaws.com/media.archnet.org/system/publications/contents/9532/original/DTP102015.pdf?1397029854, 13.05.2009
  7. Rahhal, Nabila: Executive Magazine. Lebanon’s informal public transport system. https://www.executive-magazine.com/special-report/lebanons-informal-public-transport-system, 05.07.2019
  8. Knudsen, Are John: „Decade of Despair: The Contested Rebuilding of the Nahr al-Bared Refugee Camp“. In: Refuge Vol. 34, 2/2018, S. 135-149, Libanon 2007–2017
  9. United Nations Relief and Works Agency for Palastine Refugees in the Near East. Nahr El-Bared Camp. https://www.unrwa.org/where-we-work/lebanon/nahr-el-bared-camp, 06.01.2022, 06.01.2022
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